Auszeit.

Auszeit.

Mk 2, 23-28                                     20. Sonntag nach Trinitatis – Großgrabe, am 03.11.2019

„Es begab sich, dass Jesus am Sabbat durch ein Kornfeld ging, und seine Jünger fingen an, während sie gingen, Ähren auszuraufen. Und die Pharisäer sprachen zu ihm: Sieh doch! Warum tun deine Jünger am Sabbat, was nicht erlaubt ist? Und er sprach zu ihnen: Habt ihr nie gelesen, was David tat, als er in Not unterwegs war und ich hungerte, ihn und die bei ihm waren: wie er ging in das Haus Gottes zur Zeit Abjatars, des Hohenpriesters, und aß die Schaubrote, die niemand essen darf als die Priester, und gab sie auch denen, die bei ihm waren? Und er sprach zu ihnen: Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen. So ist der Menschensohn auch ein Herr über den Sabbat.“

Liebe Gemeinde! Die Jünger raufen die Ähren. Die Pharisäer raufen sich die Haare. Eine Hungergeschichte. Beide haben Hunger. Bei den Jüngern liegt er im Magen, bei den Pharisäern im Herz. Beide wollen ihren Hunger stillen. So greifen die einen ins Kornfeld, die anderen in die Weisung Gottes. Den Jüngern geht es um die Ähren, den Pharisäern um die Ehre, Ehre Gottes. Sowohl die Jünger, als auch die Pharisäer erhoffen sich zu Recht Sättigung. Wenn ich hungrig bin und esse, was Gott in seiner Güte hat wachsen lassen, werde ich satt und finde so Entspannung und Ruhe. Dasselbe meinen auf der spirituellen Ebene die Pharisäer: Wenn ich Gottes Gebote halte, die Gott uns in seiner Güte gegeben hat, aus ihrer Kraft und in ihnen lebe – wird mein Lebenshunger gestillt. Ich finde Ruhe. „Schabbat“ heißt „ruhen“. In unserer Hungergeschichte treffen sich Magen und Herz. Das ist nicht außergewöhnlich, sondern alltäglich. Aber heute ist kein Alltag. Sabbat. Arbeit und ernten untersagt. Kann, wer hungert, Ruhe finden? Ähren raufen; Hunger stillen, Ruhe finden, Sabbat brechen. Wir sind treffliche Protestanten und pochen auf unsere Freiheit. Wie Jesus hier diese finsteren Taliban im Pharisäergewand abfertigt – einfach clever: Die Ordnung ist für den Menschen da, nicht der Mensch für die Ordnung. Genau. Musste mal gesagt werden. Manchmal ist mir solche evangelische Freiheit, die sich allzu schnell auf Jesus beruft, verdächtig. Was halten wir denn wirklich vom Sonntagsgebot? Mag der Sonntag bei den Politikern voller Termine sein. Aber wir als Kirche? Die EKD-Synode beginnt an einem Sonntag, erst Gottesdienst, dann Tagung. Das bedeutet für die vielen Helfer viel Arbeit. 2020 ist in der sächsischen Landeskirche die Wahl der Kirchenvorstände. An welchem Wochentag wohl? Am siebenten Tag sollst du ruhen? Es sieht so aus, als gehen unsrer Kirche die Begründungen aus, auf die Bedeutung dieses Gebotes für unser gesellschaftliches Miteinander hinzuweisen. Signale fehlen, glaubwürdige Zeichen. Bei unseren älteren Glaubensgeschwistern, den Juden, käme niemand auf die Idee, den Sabbat zum Wahltag zu machen, noch nicht einmal für eine politische Wahl. Aber was ist denn nun mit dem Ährenraufen am Sabbat? Erscheint uns die Haltung der Pharisäer aus heutiger Sicht kleinkariert? Das damalige und heutige Lebensgefühl scheint uns zumindest sehr verschieden. Das wird schon am ersten Vers deutlich: „Und es begab sich, dass er am Sabbat durch ein Kornfeld ging, und seine Jünger fingen an, während sie gingen, Ähren auszuraufen.“ Wir sehen damit vor uns Menschen, die von der Hand in den Mund leben. Das ist in Deutschland so eher weniger der Alltag. Auch wandern und arbeiten am Sonntag – heute unproblematisch – damals ein Konfliktfall. Die Pharisäer fühlen sich nicht nur im Recht. Sie haben auch recht. Das Sabbatgebot gilt als hochheilig, denn es ist nicht ein, sondern das entscheidende Gebot. (2Mo 20, 8-11; 31, 12-17; 5Mo 5, 12-15; Jes 56, 1-8; 58, 13-14; Hes 20, 10-12). Es war eine soziale Revolution in der damals antiken Welt: Der Sabbat proklamierte einen Wochentag Ruhe für Mensch und Tier, Land und Leute, Sklaven und Herren. Das passte den Cäsaren und Schwertträgern nicht. Dazu kam außerdem: aller sieben Jahre sollte auch die Erde ruhen und nicht bebaut werden. Ein Sabbatjahr für die geschundene Erde, wie aktuell. Und noch mehr: nach sieben Sabbatjahren, also einmal in jeder Generation, soll das Jubel-, das Erlassjahr ausgerufen werden. Alle Schulden werden erlassen, jeder erhält sein Land zurück und all seinen Besitz der Vorfahren. Wie brisant heute: Schuldenerlass, Landrückgabe. Diese Gesetze brachten den Juden Hass und Ablehnung ein. Doch sie blieben aber durch die Jahrhunderte dabei: Sabbat für alle. Wem ein freier Tag zusteht, ist auch an diesem Tag kein Fronknecht, sondern was er in Wahrheit ist: Mensch. Der Sabbat stiftet so Wert, Würde und Identität. Die Juden halten und bewahren ihn und zeigen sich so als Menschen, Menschen Gottes. Mag der Sabbat auch in Rom und Athen gebrochen werden, aber nicht in unserm Volk, vor unsern Augen: „Und die Pharisäer sprachen zu ihm: sieh doch! Warum tun deine Jünger am Sabbat, was nicht erlaubt ist?“ Damit stehen sich hier zwei starke Kräfte gegenüber: Der Hunger und der Sabbat. In beiden liegt die Sehnsucht nach Kraft und Ruhe. Der Hunger sagt: Wenn du isst, wirst du neue Kraft finden und Ruhe, dein Verlangen wird gestillt. Der Sabbat sagt wörtlich dasselbe: Wenn du mich hältst, wirst du neue Kraft finden und Ruhe, dein Verlangen wird gestillt. Magen und Herz. Leib und Seele. Die Jünger schauen Jesus an und fragen wortlos: Sollen wir am Sabbat keine Ruhe finden, weil unsere Mägen knurren? Nein, sagt Jesus, esst in Frieden. Die Pharisäer schauen Jesus an und fragen wortlos: Soll durch das Ährenraufen deiner Jünger die Sabbatruhe gebrochen werden? Nein, sagt Jesus, lasst sie in Frieden. Jesus wirft die Flinte nicht ins Korn. Beides, sagt er, gehört zusammen: Der Hunger und der Sabbat. Beides sind unaufgebbare Bedürfnisse. Sie gehören gestillt. Da aber ein Hungernder am Sabbat nicht recht ruhen kann, muss erst der Hunger gestillt werden. So kommt in der Sättigung des Hungernden der Sabbat erst zu seinem Recht. Gerade weil der Hungernde isst, kann Sabbat werden. Die Gebote sind eben nicht bedingungslos einzuhalten. Denn dann wäre der Mensch für die Ordnung da. Die Ruhe ist die Vorbedingung für das Sabbatgebot, Hunger aber ist eine bedrängende Ruhelosigkeit. Wird diese Vorbedingung beachtet und dem Hunger Abhilfe geschaffen, kann der Sabbat kommen. Denn die Ordnung ist für das Leben da: „Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht Mensch um des Sabbat willen.“ Was uns auf den ersten Blick wie ein antikes innerjüdisches Streitgespräch vorkommt, ist in Wahrheit voller sozial-religiöser Wirkkraft. Der Hunger der Armen, betont Jesus, ist in den Augen Gottes wichtiger als der Sabbat, eine wichtigere religiöse Aufgabe als der Sabbat. Damit wird der Hunger Armen symbolisch zur zentralen religiösen Aufgabe Israels erklärt. Stellen wir uns mal vor, die Kirchen würden Jesus an dieser Stelle zustimmen. Der Hunger kommt ja erst durch die demonstrative Sabbatverletzung in den Blick. Mit Hilfe des Sabbats hebt Jesus so die Bedeutung des Hungerproblems hervor. – Heute müssen wir das Sabbatgebot nicht brechen, um für den Menschen etwas zu tun. Wir müssen es aufrichten. Denn das Gebot ist für den Menschen gemacht. Dem rast- und ratlosen, gehetzten Menschen der Moderne hilft nur diese eine Weg: Am siebenten Tage sollst du ruhen. Unsere Gesellschaft ist von ungeheurer Ruhelosigkeit und Umtriebigkeit geprägt, in der Menschen ausbrennen, leerlaufen, kaputtgehen. Es ist manchmal zum Haareausraufen. Es ist heilend, heilsam für unser Miteinander, wenn wir uns daran erinnern, was Gott am 7. Tag geschaffen hat: Gelassenheit, Ruhe, Heiterkeit und Frieden. Amen.

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