Bleibt fest in der brüderlichen Liebe (Oßling)

Bleibt fest in der brüderlichen Liebe (Oßling)

Hebr 13,1-3                                                                     7. Sonntag nach Trinitatis – Oßling, am 26.07.2020  

                                                                                                                                                                          „Bleibt fest in der brüderlichen Liebe. Gastfrei zu sein vergesst nicht; denn dadurch haben einige ohne ihr Wissen Engel beherbergt. Denkt an die Gefangenen, als wärt ihr Mitgefangene, und an die Misshandelten, weil auch ihr noch im Leibe lebt.“

Liebe Gemeinde! Wir sehen ein klassisches Sommerbild. Ein großes Weizenfeld, die Körner in den Halmen scheinen bald reif. Darüber und dahinter wölbt sich ein tiefblauer bis schwarzer Himmel mit Gewitterwolken. Es wird nicht mehr lange dauern, so sieht es aus, dann blitzt, donnert und regnet es sommerlich. Jedes Bild zeigt zunächst einmal, was es zeigt – nämlich seine Oberfläche. – Bilder haben aber auch ein Inneres. Hier prallen zwei Welten und zwei kraftvolle Farben aufeinander. Die Erde, die Leben schenkt, und der Himmel, der bedrohlich wirkt. Ein Sommergewitter wie das, was sich hier ankündigt, ist kein Vergnügen – auch nicht für die Früchte des Feldes, die dem ja standhalten oder untergehen. Und noch etwas krasser prallen hier Leben und Tod aufeinander. Wie ständig im letzten Lebensjahr des Malers Vincent van Gogh. Er gilt heute als der berühmteste Maler der Welt. Seine Bilder werden geschätzt und sind weit verbreitet: als Postkarten, Kunstdrucke, Plakate, sogar als Tapete. In seinem Leben war das anders. Erst in den letzten Lebensjahren nahm man überhaupt Notiz von ihm, der heute als Begründer der modernen Malerei gilt. Und das deswegen, weil er nicht nur einfach malte, was er vor Augen hatte, sondern in den Bildern auch seine meist aufgewühlte Seele sprechen ließ. Van Gogh war bettelarm und von durchgeschüttelter Seele. Er tat sich Leid an; er liebte seinen Bruder, der ihm finanziell half und Farben besorgte; er hatte nie eine eigene Familie und nahm sich schließlich Ende Juli 1890 das Leben. Über die Gründe wird viel spekuliert, wahrscheinlich stimmen alle ein wenig: Erschöpfung, Angst, Aussichtslosigkeit. Man kann im Leben nur begrenzt um Liebe oder Erfolg kämpfen. Irgendwann fehlen die Kräfte. Bilder van Goghs sind heute bis zu hundert Millionen Euro wert, falls sie überhaupt zu einer Versteigerung kommen. Ausstellungen werden von Hunderttausenden besucht. Sein Unglück wurde zum Glück für die Welt. Unser heutiges Predigtwort aus dem Hebräerbrief erinnert uns an die Menschen, deren Leben vom Unglück gezeichnet ist – unabhängig von der Frage nach Schuld: Denkt an die Gefangenen, als wärt ihr Mitgefangene, und auch an die Misshandelten, weil auch ihr noch im Leibe lebt. – Was soviel heißt wie: Ihr seid auch Menschen; erst einmal einfach Menschen. Wer einen anderen Menschen einfach als Mensch sieht, als mitunter leidenden Menschen, wird zum Engel oder erfährt andere als Engel. Das ist ein schönes Sinnbild. Ein anderer könnte Engel sein; er muss es nicht sein oder werden – es könnte aber sein. Und die Gestrauchelten und sich in der Welt Verlierenden brauchen vor allem Menschen, die sie nicht auch noch verurteilen. Sie werden schon genug bloßgestellt durch Verächtlichkeit anderer. Und: Menschen verlieren immer etwas von ihrer Härte, wenn sie spüren: jemand hört mir zu; jemand hört mehr als nur auf meine Worte. Neben der Gefangenenseelsorge steht die Gastfreundschaft. Gastfrei sein. Das versteht jeder. Durch Gastfreiheit haben manche – ohne ihr Wissen – Engel unter ihrem Dach beherbergt. Da klingt schön. Aber ob man es auch tut? Die eigenen Interessen sind oft mächtiger. Das eigene Leben und seine Regelungen scheinen oft drängender und füllen alle Zeit aus. Wir lesen auch: „ Seid gastfrei …weil ihr noch im Leibe lebt.“ Das meint doch: Wir sind hier noch auf Erden, aber da wird noch mehr sein. Und am Anfang dieses „Mehr“ werden wir wohl gefragt werden, wie wir unser Leben nicht nur für uns gestaltet haben, sondern auch mit anderen. Dann wäre es gut, wenn wir antworten könnten: wir haben es gerne mit anderen gestaltet, vor allen mit denen, die schnell vergessen wurden. Wir haben gerne mit denen gefühlt, die von der Welt vergessen schienen. Und tatsächlich – wie sich oft viel später zeigt – es war manch Engel dabei. – Wie groß ist die Kraft unseres Herzens? Wir dürfen uns vorstellen, dass mehr Menschen unter ihrem Leben leiden, als wir ahnen. Es gibt so viele Gründe, warum Menschen mehr seufzen, als wir es mitbekommen. Das kann die Arbeit sein, das Leben in der Familie, ein körperliches Leid, das wir erst einmal nicht sehen – und noch manches mehr. Gedanken oder Sorgen, die die einen abschütteln, setzen anderen sehr zu. Die schwersten Lasten sind meist unsichtbar. Und häufig, das kennen wir vielleicht von uns selber, zeigen belastete Menschen nach außen hin ja eine erstaunliche Gelassenheit. Was ist mit den Nöten, Bedrängnissen und seelischen Schmerzen der Menschen um uns? Wir können dagegen wenig tun. Aber das Wenige können wir tun. Wir können achtsam sein. Wir können verborgene Lasten wahrzunehmen, es zumindest versuchen. Wir können manchmal innere Gefangenschaften von Menschen vermuten. Wir müssen nicht jede Gelassenheit von Menschen glauben. Oft sind Gewitter in den angeblich blühenden Seelen. Was sehen und hören wir, wenn wir andere ansehen und ihren Worten lauschen? Nehmen wir uns ein bisschen Zeit, dazu eine Portion Geduld und eine kräftige Prise Güte und Verständnis entsteht Achtsamkeit. Achtsamkeit lernen. Als Lebensstil. Einfach achtsam sein. Einfach und achtsam. Wir sind Menschen wie die anderen. Mehr sind wir nicht, erst einmal. Vielleicht bemühen wir uns, uns nichts vormachen zu lassen, nicht zu schnell zufrieden zu sein mit dem, was andere uns als ihr glückliches Leben anbieten. Das ist schon viel. Und lassen andere leise spüren, dass wir da sind, wenn sie etwas erzählen möchten. Achtsamkeit aufeinander ist eine Form von Nächstenliebe. So werden wir füreinander zum Engel. Achtsame Menschen sind ein Glück für die Welt. Achtsamkeit ist brüderliche Liebe: „Bleibt fest in der brüderlichen Liebe.“ Amen.