blind geboren…

blind geboren…

Joh. 9, 1-7                                       9. Sonntag nach Trinitatis                    Großgrabe, am 18.08.2019

„Jesus ging vorüber und sah einen Menschen, der blind geboren war. Und seine Jünger fragten ihn und sprachen: Meister, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, dass er blind geboren ist? Jesus antwortete: Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern, sondern es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm. Wir müssen die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat, solange es Tag ist; es kommt die Nacht, da niemand wirken kann. Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt. Als er das gesagt hatte, spuckte er auf die Erde, machte daraus einen Brei und strich den Brei auf die Augen des Blinden. Und er sprach zu ihm: Geh zum Teich Siloah – das heißt übersetzt: gesandt – und wasche dich! Da ging er hin und wusch sich und kam sehend wieder. Jesus fragte ihn. Glaubst du an den Menschensohn? Er antwortete und sprach: Herr, wer ist es? – dass ich an ihn glaube. Jesus sprach zu ihm: Du hast ihn gesehen. Und der mit dir redet, der ist es. Er aber sprach: Herr, ich glaube! “

Liebe Gemeinde! Was siehst du, wenn du einen siehst? Er hat einen Fussel auf dem Anzug. Vielleicht siehst du mehr, etwa: Der Anzug steht ihm gut. Oder gar, wenn du ihn anschaust, wie es ihm geht? Du sprichst gar mit ihm, der Horizont wird weiter. Du siehst seine sozialen Einbindungen, seine Prägungen, seine Biographie. Es könnte sein, dass du nicht nur in Vergangenes oder den Moment blickst, sondern weitsichtig siehst, was er werden könnte, seine Potentiale witterst. Wenn du gar etwas davon siehst, warum dieser Mensch hier ist, dir begegnet, was seine Bestimmung ist, siehst du wahrhaft viel. Ich nenne das mal „Komplexes Sehen“. Du erkennst, in welchen komplexen Zusammenhängen dein Gegenüber steht. So beginnt das, was wir „Verstehen“ nennen. Wenn einer sich gar müht, den andern mit Gottes Augen zu sehen, öffnen sich neue Dimensionen. Ich sehe dich mit Glaubensaugen: Erkenne, du wirst eine hohe verantwortliche Stellung in Gottes Welt ausüben, wirst vollkommen sein, voller Schönheit, Gesundheit, Kraft und Lebensglück. Von solchen vieldimensionalem Sehen wird hier erzählt: „Jesus ging vorüber und saheinen Menschen, der blind geboren war.“Der Blinde sieht Jesus nicht, aber Jesus sieht ihn. Das wirft auch ein Licht auf uns. Bevor wir Jesus erkannten, hat er uns gesehen. Und wir dürfen getrost dieses „Sehen Jesu“ etwas tiefer verstehen: Jesus sieht ihn mit Gottes Augen. Sieht, was Gottes Absicht ist. Neben dem Blick Jesu gibt es auch den Blick der Jünger. Sie folgen Jesu Blick und nehmen so auch den Blinden wahr – aber nicht mit einem sehenden Auge. (Spr 20,12) Dieses Licht wohnt noch nicht in ihnen. Sie haben keinen Durchblick, sehen nicht klar, besser – sie sehen gar nicht. Ihre Frage offenbart nicht nur schlechte Erziehung, dass sie in Gegenwart des Blinden über sein Elend und seine Schuld debattieren. Ihre Frage zeigt vor allem, dass sie eindimensional sehen. Sagen wir vorsichtig – dass sie für die komplexen, göttlichen Absichten blind sind. So hört sie der Blindgeborne reden: „Meister, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, dass er blind geboren ist?“Wer so fragt, ist er nicht selber blind? Blind, weil er Sünden im Leben anderer sucht, statt bei sich zu bleiben. Vernagelt, ein Brett vor dem Kopf auch, weil er nicht sieht, dass es keinem Menschen zusteht, die Schuld anderer abzuwägen. Nichtsehend ist, wer Krankheit nur als Strafe sieht.  Strafe für Schuld – weit gebracht haben wir es mit diesem Denken, o ja! Jesus weist eine Diskussion über Schuld und Sühne ab, weil die Frage der Vergeltung den Blick bannt, blind macht. Eben weil die Jünger Krankheit als Strafe deuten, sehen sie vor sich nicht einen Menschen, sondern einen Problemfall und fragen: Wer ist schuld? Nicht der Mensch, sondern ein Problem steht so in der Mitte der Aufmerksamkeit. Nun gibt es aber nicht nur das Problem der Behinderung. Es sind Menschen, die mit Behinderungen leben müssen. Doch wir begegnen Menschen und nicht einem Problem. Behinderte sind nicht behindert, sie werden behindert. Das macht Jesus ihnen deutlich mit seiner Antwort: „Es hat weder dieser gesündigt, noch seine Eltern.“Was diesen Blinden hindert zu sehen, ist keine Schuld, die Strafe nach sich zieht. Dieses Hindernis ist anderer Art. Wie fremd müssen Jesu Worte für die Weltsicht der Jünger geklungen haben. Sie glaubten an Gottes gerechtes Richten: der Mensch bekommt nach seinen Taten. Gutes tun bringt Lohn, Segen. Sünde bewirkt Strafe, Unglück. So starren sie in die Vergangenheit, suchen Ursache und Grund und fragen: Warum? Jesus durchbricht dieses enge Denkgefängnis und sagt: Gott ist größer; größer, als dass er sein Handeln vom Tun des Menschen abhängig macht. Er passt nicht in eure Denkschablone. Gott lässt eben seine Sonne aufgehen über Gute und Böse. Und doch beantwortet Jesus die Jüngerfrage. Er spricht aber nicht über das „warum“ der Blindheit, sondern das „wohin“, wie die Sache ausgeht. Wirklich seltsam muss die Antwort Jesu in ihren Ohren geklungen haben: „Es hat weder dieser gesündigt, noch seine Eltern, sondern es sollen an ihm die Werke Gottes offenbar werden.“Jesus stellt damit einfach nur fest: Gott will an diesem Menschen handeln. Dazu lebt er und ist blind geboren. – Haben wir Jesus da richtig verstanden, dass der Blindgeborne dazu dienen soll, andern die Augen zu öffnen? Was mag er wohl bei diesem Wortwechsel gefühlt haben? Er war ja ein Kind seiner Zeit. Und auch er zweifelte nicht daran, dass Krankheit Strafe ist. Wie viele Tage und Nächte wird er wohl als Kind und Jugendlicher und Mann durchlitten haben. Immer unter der Anklage seiner Umwelt und seines Herzens stehend, und gebetet: O Gott, was habe ich nur getan? Viele Jahre hatte er nicht den Funken einer Antwort. Weder auf seine äußere Dunkelheit, die Blindheit seiner Augen, noch auf seine innere Dunkelheit, sein ungelöster Konflikt mit Gott. Hätte er als Kind gewusst: ja, einmal kommt der Tag, da werde ich sehen und gesund sein, ich werde aus der Begrenzung, dem engen Maß meines dunklen Lebens herausgeholt – hätte er das geglaubt, dass sich einmal sein Verlust in Gewinn verwandeln wird, dass er in dem Schweren, was er trug, vorbereitet wird für ein einmaliges Erlebnis göttlicher Gnade – – er hätte anders gelebt. Diese Hoffnung hätte sein Leben hell gemacht. Erahnen wir hier schon Wegweisungen für unser Leben? Was glauben wir denn, was aus uns wird? Wie deuten wir unsere dunklen und bitteren Erfahrungen? Haben wir nur ein warum? Oder ein wohin? Es ist die Herausforderung, das Leben nicht von der Vergangenheit, sondern von Gottes Absichten und seinem  Ziel her zu sehen. Es nicht von Erfahrungen, sondern vom Glauben zu deuten. Unser Leben braucht den Glauben wie ein Baum die Sonne. Durch Glauben wird es hell im dunklen Herzen und wir sehen: Einmal kommt der Tag, da wirst du in die volle Freiheit geführt. Gott sorgt dafür. Einmal werden die Blinden sehen, die Lahmen gehen und die Toten auferstehn. Jesus lässt sich nicht aufhalten. Für alle sichtbar wird er auf dieser Erde erscheinen. Da wird uns sein, als würden wir träumen. Uns wird aufgehen, was der Glaube schon immer wusste:  „dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen.“(Röm 8) Mit der Heilung des einen setzt Jesus ein Zeichen: einmal werden alle sehen. Stutzig macht hier nur die Art und Weise der persönlichen Zuwendung Jesu. Er verkleistert mit einem unappetitlichen Brei aus Spucke und Staub erst die Augen des Blinden, dann schickt er ihn zum Waschen. Jesus schmiert dem Mann das Allergewöhnlichste auf die Augen, den Stoff, aus dem alle Menschen gemacht sind. Dazu tut Jesus etwas von seiner Person, Speichel. Das bedeutet wohl: der Erdling, das Wesen aus Staub, braucht, um zu sehen, Berührung mit Jesus. Aber noch ist das Hindernis, die Barriere gegen das Licht, nicht aus dem Weg. Dazu braucht es Glauben. Den fordert Jesus mit der Anweisung: Geh, wasche dich. Hörst du: Geh, wasche dich!! Nur im Hören und Gehorchen kann ein Mensch sehend werden. Jetzt liegt alles daran, dass er der Weisung folgt. Wirklich hingeht und sich wäscht. Obwohl er nicht versteht, was da vorgeht. Er soll etwas tun, wofür es nichts gibt, als den Rückhalt des Wortes Jesu. Das ist glauben – auf dein Wort hin, Herr: „Da ging er hin und wusch sich und kam sehend wieder.“Für den Geheilten ist jetzt klar: das Licht war immer da, es war mir nur verstellt, das Hindernis ist beseitigt. Die zweite Begegnung Jesu mit dem nun Sehenden wird zum eigentlichen Höhepunkt der Geschichte. Er kann nun sehen, aber noch sind die inneren Augen verschlossen. Von dem Retter weiß er nichts: „Jesus fragte ihn. Glaubst du an den Menschensohn? Er antwortete und sprach: Herr, wer ist es? – dass ich an ihn glaube. Jesus sprach zu ihm: Du hast ihn gesehen. Und der mit dir redet, der ist es. Er aber sprach: Herr, ich glaube! – Und betete ihn an.“Nach dem Wunder der Heilung nun das Wunder des Glaubens: einer erkennt in Jesus seinen Retter. – Dass der Blindgeborne in unserm Predigttext so merkwürdig anonym bleibt, ohne Name, Alter und Beschreibung – ist ein Hinweis: hier steht einer für alle. Seine Situation bildet die Lage aller Menschen ab. Ja, wir sind alle blind geboren, blind für Gottes Welt, blind für seine Liebe, blind für Jesus, unsern Retter. Er muss uns verkündigt werden und Gottes Geist muss unser Herz öffnen. Wer Jesus als seinen Retter erkannt hat, der ist sehend geworden. Und kann nun mit Jesu Augen die Welt und Menschen sehen. Amen.