Das Echo einer Geschichte

Das Echo einer Geschichte

Mk 12, 1-12                                                                     Reminiszere – Oßling/Großgrabe, am 17.03.2019

„Jesus fing an, zu den Hohenpriestern und Schriftgelehrten in Gleichnissen zu reden: Ein Mensch pflanzte einen Weinberg und zog einen Zaun darum und grub eine Kelter und baute einen Turm und verpachtete ihn an Weingärtner und ging außer Landes. Und er sandte, als die Zeit kam, einen Knecht zu den Weingärtnern, damit er von den Weingärtnern seinen Anteil an den Früchten des Weinbergs hole. Sie  nahmen ihn aber, schlugen ihn und schickten ihn mit leeren Händen fort. Abermals sandte er zu Ihnen einen anderen Knecht; dem schlugen sie auf den Kopf und schmähten ihn. Und er sandte noch einen anderen; den töteten sie; und viele andere: die einen schlugen sie, die anderen töteten sie. Da hatte er noch einen, seinen geliebten Sohn; den sandte er als letzten auch zu ihnen und sagte sich: Sie werden sich vor meinem Sohn scheuen. Sie aber, die Weingärtner, sprachen untereinander: Dies ist der Erbe; kommt, lasst uns ihn töten, so wird das Erbe unser sein! Und sie nahmen ihn und töteten ihn und warfen ihn hinaus vor den Weinberg. Was wird nun der Herr des Weinbergs tun? Er wird kommen und die Weingärtner umbringen und den Weinberg andern geben. Habt ihr denn nicht dieses Schriftwort gelesen: Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, der ist zum Eckstein geworden. Vom Herrn ist das geschehen und ist ein Wunder vor unsern Augen? Und sie trachteten danach, ihn zu ergreifen, und fürchteten sich doch vor dem Volk; denn sie verstanden, dass er auf sie hin dieses Gleichnis gesagt hatte. Und sie ließen ihn und gingen davon.“

Liebe Gemeinde! Wer ein Echo hört, muss die Ohren spitzen, genau hinhören. Mit unserm Predigtwort hören wir ein fernes Echo: Jesu Worte, vor 2.000 Jahren gesprochen. Den Zuhörern damals ging es wie uns heute. Auch sie vernehmen in den Worten Jesu ein fernes Echo. Jesus greift mit seinem Weinberggleichnis auf eine seinen Hörern bekannte Geschichte zurück. Jesus hat sich Worte und Bilder des Propheten Jesaja geliehen, 800 Jahre vor ihm gepredigt. Jesus zitiert eine alte Prophetenautorität. Wer zitiert, bringt Geschichte ins Spiel. Wer zitiert, sagt damit seinen Zuhörern: schaut mal zurück, auf die Alten, die Väter. In die Geschichte blicken … wir sind uns darüber einig, dass ein Blick in die Geschichte wichtig, ja für die Gegenwart und Zukunft unerlässlich ist. Das gilt für Politik, Kirche und auch für jeden einzelnen. Damit sich die alten Fehler und Irrwege nicht immer wiederholen. Um Zukunft zu haben, muss man auf vergangene Wege blicken. So verstehe ich Jesu Ansatz: es geht ihm um die Zukunft seiner Zuhörer. Deshalb schaut er mit ihnen in die Glaubensgeschichte der Altvorderen: Der Weinbergbesitzer – das ist der Gott Abrahams. Der Weinberg und der Pachtvertrag – das ist der Bund am Sinai. Die Pächter – das erwählte Volk Israel. Die Zuhörer nicken und gehen innerlich mit. Sie blicken auf die Schuldgeschichte ihres Volkes und seufzen: ja, das ist wohl wahr, die Propheten hatten einen schweren Stand; den Mahnern der Liebe Gottes, des Friedens, der Gerechtigkeit, denen erging es oft nicht gut. Diese Bilder sehen sie bei den Worten Jesu:   „ … dem einen schlugen auf den Kopf und schmähten ihn, einen anderen töteten sie und viele andere: die einen schlugen sie, die anderen töteten sie.“Jesu Schilderung der Pächter, das krasse Unrecht, was da geschieht, drängt einen förmlich, sofort Stellung gegen sie zu beziehen. Aber wir halten uns vorerst mit unserem Urteil zurück, hören Jesus weiter zu. Jetzt nämlich wechselt für die Zuhörer die Sichtweise. War bisher der Weinberg und das Tun der Pächter im Blick, wird der Fokus nun auf den Besitzer gerichtet. Jesus fährt fort: „Der Besitzer hatte noch einen, seinen geliebten Sohn; den sandte er als letzten auch zu ihnen und sagte sich: Sie werden sich vor meinem Sohn scheuen.“ Er schickt seinen einzigen geliebten Sohn. Also … der Mann ist blind, macht sich Illusionen, verschließt die Augen vor der Realität. Wie kann er noch immer an das Gute im Menschen glauben? Kann sein, dass Menschen blind sind, sich Illusionen machen und an das Gute im Menschen glauben. Aber Gott? Jesus redet beim Besitzer ja von Gott. Warum schickt der Besitzer, Gott, seinen einzigen geliebten Sohn zu diesen? Jesus unterstellt Gott nicht, dass er blind ist und sich Illusionen macht. Wir unterstellen das Gott auch nicht. Gott weiß, was er tut. Damit hat sich aber dieses aufdringliche Fragezeichen in den Raum gestellt: Was bewegt Gott so vorzugehen? Wieso hat er sich das bieten lassen? Warum ist der Pachtvertrag nicht schon längst gekündigt? Viele seiner Knechte wären noch am Leben, viel Unrecht nicht geschehen. – Jesus stellt vor Augen, wie Gott an seine Grenzen kommt. Ja, dass der Mensch Gott Grenzen setzt. Jesus erzählt hier von den Niederlagen Gottes. Gott beißt sich am Menschen die Zähne aus. Der Mensch bricht Gott das Herz.Jetzt verstehe ich, so ist es für mich einsichtiger, warum er seinen geliebten Sohn in die Mördergrube schickt: er hat ein gebrochenes Herz. Vom gebrochenen Herzen Gottes erzählt das Alte Testament. Wir sehen darin das zornig-verzweifelte Ringen Gottes um seine Menschen. Und er erleidet Niederlagen, eine nach der anderen. Im Garten Eden und am Turm zu Babel, seine Reue nach der großen Flut, sein Sorgen und Zürnen in der Wüste und im gelobten Land. Fremde Kriegsheere hat er gegen sein Volk geschickt, Städte und Tempel in Brand gesteckt, sein Volk befreit und wieder in Gefangenschaft gehen lassen, gerufen, gelockt, gemahnt, gedroht … aber, was er gewinnen wollte, hatte er nicht gewonnen: das menschliche Herz. Wer Anteil nimmt an Gottes Geschick, wer in die Geschichte schaut und nachfühlt, mitfühlt – dem begegnet Trauer, der fühlt den Schmerz Gottes. Trauer, Anteilnahme und Mitgefühl haben immer eine verändernde Kraft. Trauer – ist Abschied von einem alten Weg. Jesus will seine Zuhörer in die Trauer führen, und so auf einen neuen Weg. Sie sollen trauern – wenn sie in die Geschichte blicken – sie sollen trauern über so viel verpasste Liebe, die verschmähte Gemeinschaft mit ihrem Gott. Es ist möglich, in der Kraft der Trauer einen neuen Weg einzuschlagen. Die Frage ist: Wird sich die stille Energie von Trauer und Schmerz in Kraft für einen Neuanfang verwandeln? Deshalb weist Jesus in die Vergangenheit, um seinen Zuhörern einen Weg in die Zukunft zu weisen. Ich glaube nicht, dass Jesus ihnen, als er von den gewalttätigen Pächtern erzählt, seine Analyse präsentieren will, wie böse und verdorben sie sind. Als Jesus von der Mordabsicht der Pächter berichtet, will er seinen Zuhörern auch keinen Mordplan unterstellen. Das liegt nicht in seinem Interesse. Er redet als Seelsorger, will auf konkrete Gefährdungen weisen und sagen: Ihr Lieben, wenn die alte Geschichte von Gier, Blut und Habenwollen so weiterläuft und ihr keine Trauer habt über alle abgewiesene Liebe Gottes, wird´s genauso weitergehen. Dann wird, wenn Gott den Messias schickt, zwangsläufig folgendes geschehen: „Die Weingärtner aber sprachen untereinander: Dies ist der Erbe, kommt, lasst uns ihn töten, so wird das Erbe unser sein! Und sie nahmen ihn und töteten ihn und warfen ihn hinaus vor den Weinberg.“ Das geht zu weit! – sagen wir sofort. Das geht zu weit! – sagt der Weinbergbesitzer. Das geht zu weit! – sagen auch die Zuhörer Jesu. Betroffenheit auf allen Seiten. Warum sind wir, oder zögerlicher gesagt, warum bin ich betroffen? Diese Geschichte bewirkt einen Widerhall. Ich höre ein Echo in mir. Ich erkenne Töne von Gier, Neid und Habenwollen in mir wieder: Als ich mit 16 meine Lehre begann, wurde ich von meinem Lehrmeister nicht nur gestrietzt sondern auch gedemütigt, war seine Fußmatte. Zur inneren Verunsicherung kamen bald Angst- und Hassgefühle … Wenn der heute einen Unfall hätte und nicht wiederkäme, dann wäre ich ihn los, dachte ich manchmal. – Einem Menschen Böses, gar den Tod wünschen – ist das etwas anderes als in unserer Geschichte? Wir gehören zum Leib Christi. Wir haben eine Geschichte von 2.000 Jahren. Was hat da dieses Habenwollen, die Gier alles angerichtet, wie viel Blut ist da vergossen wurden. Fühlen wir Schmerz und Trauer im Betrachten der Kirche Jesu? Wird uns im persönlichen Leben, in unserm Gemeindeleben deutlicher, wo wir in der Kraft der Anteilnahme und Trauer einen neuen Weg betreten müssen, weil sich sonst Unheilvolles wiederholt?  Merkt ihr, ich habe einen Sprung gemacht. Erst war das Volk Israel Weinberg und Pächter, jetzt habe ich uns dazu getan. Auch wir sind im Bund, sind Weingärtner. Die Zuhörer damals lassen sich nicht zur Trauerarbeit bewegen. Sie fühlen sich irgendwie ertappt, getroffen, angeklagt. Sie machen dicht. Deshalb geht die alte Geschichte weiter: Gewalt. Sie wollen den Redner mit Gewalt zum Schweigen bringen – aber wie entlarvend –  sie selbst, sie haben Angst Gewalt zu erleiden:„Sie trachteten danach, ihn zu ergreifen und fürchteten sich doch vor dem Volk; denn sie verstanden, dass er das Gleichnis auf sie hin gesagt hatte.“ Jesus harte Worte sind keine Anklage, aber eine klare Ansage: Leute, das und das lehrt uns die Geschichte, jetzt liegt eine konkrete Gefährdung vor – das betrifft euch. Was sagt ihr dazu? Sie könnten jetzt antworten: du spinnst; oder, erklär es uns deutlicher; oder, was können wir tun oder lassen, um aus der Spirale der Selbstbehauptung herauszukommen? Aber – sie verweigern sich. Es fing so gut an mit dem schönen Weinberg, und jetzt das. Unser Predigtwort hat ein starkes Gefälle: guter Anfang – böses Ende. Beim letzten Satz sind wir am tiefsten, schmerzhaftesten, ja dunkelsten Punkt. Ende des Dialogs. Es wird nicht mehr geredet: „Und sie ließen Jesus stehen und gingen davon.“Jesus stehen lassen. Jesus einfach stehen lassen und den eignen Weg gehen … (Spiegel nehmen) Jetzt zu uns: Ich bin der Auffassung, dass auch dieses Wort der Bibel unser Leben, unser Miteinander, unseren Glauben stärken und erneuern will. Das vollzieht sich aber erst dann, wenn wir vom Zuschauen zum Gespräch kommen. Das Wort heute bietet sich als Gesprächspartner an: Schau auf die Menschen in meiner Geschichte, sagt es, und stell dich zu ihnen. Wärst du gern einer, der dem Besitzer beim Anlegen des Weinberges hilft? Oder einer der Pächter? Ein Schriftgelehrter, der Jesus zuhört? Juckt es dich, auf das Rednerpult neben Jesus zu treten und mit zu erzählen? Würdest du den gewalttätigen Pächtern, deinen Kollegen, entgegentreten und ihnen zurufen: Halt, das könnt ihr nicht tun! Würdest du dich vor den geliebten Sohn des Besitzers stellen, den sie gerade packen wollen und rufen: Niemals! Dann müsst ihr mich auch mit töten! Wärst du gern der Geheimberater des Besitzers und würdest ihm empfehlen, statt seines Sohnes seine Elitetruppen zu schicken und mit diesen Halunken kurzen Prozess zu machen? Oder würdest du versuchen, den Tiefpunkt der Geschichte zu verhindern und den Leuten, die Jesus einfach stehen lassen, nachlaufen? Kurz: Würdest du dich einmischen? Würdest du Zuschauer bleiben oder Verantwortung übernehmen? Diese Frage – deine Antwort, ist von tiefer Bedeutung für dich selbst und unser Miteinander. Der auferstandene Herr; unser Herr, ist mitten unter uns. Und mag diese Predigtwort auch 2.000 Jahre alt sein, an einer Stelle tritt es in dieser Stunde an dich heran – mit seinem Tiefpunkt: „… und sie ließen ihn stehen und gingen davon.“Und du – fragt Christus? Es gibt viele Spielarten, Christus stehen zu lassen, fromme und unfromme. Immer geschieht dabei das eine: das, was Christus schenken will, wird halbherzig, viertelherzig, gar nicht angenommen: Gnade. Jesu Gnade bewirkt, dass aus heilloser Verstrickung heilsame Bindung wird. Der Weinbergbesitzer, Gott, unser Vater, hat seinen geliebten Sohn auch in unsere Versammlung gesandt und die Frage an dich lautet jetzt: Willst du was war, was ist und was wird loslassen und ganz Gottes Gnade trauen? Willst du dich ganz an Gottes Gnade binden? Nein oder Ja? Amen.