Der Liebe bedürftig

Der Liebe bedürftig

Der Liebe bedürftig

Hallo zusammen,

als ich gehört habe, dass es dieses Jahr in der Bibelwoche um das Matthäus-Evangelium geht, habe ich mich erst mal riesig gefreut. Jawoll, eine Woche als Gemeinde zusammen ganz bewusst in das Leben von Jesus hineinschauen. Wie cool ist das denn? Ich finde ja, Jesus ist die wichtigste Person in der ganzen Bibel. Wenn man sich mal auf Menschen beschränkt. Und ich bin immer dankbar, wenn ein Predigttext irgendwas mit Jesus zu tun hat. Dann ist schon mal von vornherein das Wichtigste dabei.
Als ich dann noch gelesen habe, dass der Titel dieses Abends lautet „Der Liebe bedürftig“ habe ich gedacht: Super, das wird eine leichte Kiste: Die Liebe von Jesus zu uns Menschen. Ein Geschenk von Gott an uns, das wir einfach nur annehmen müssen. Und ich hab mich gefragt, was denn der Bibeltext zu diesem Abend sein wird. Vielleicht die Geschichte von der Ehebrecherin? Ach ne, die steht im Johannes-Evangelium. Vielleicht irgendwas aus der Bergpredigt? Ne, die steht zu weit am Anfang des Evangeliums. Vielleicht geht es ja um das letzte Abendmahl, wo Jesus die Jünger quasi in Brot und Wein schmecken lässt, wie groß seine Liebe zu ihnen ist.

Und dann kam die Ernüchterung:

31 »Wenn der Menschensohn in seiner Herrlichkeit kommen wird und mit ihm alle Engel, dann wird er in königlichem Glanz auf seinem Thron Platz nehmen.
32 Alle Völker werden vor ihm versammelt werden, und er wird die Menschen in zwei Gruppen teilen, so wie der Hirte die Schafe und die Ziegen voneinander trennt.
33 Die Schafe wird er rechts von sich aufstellen und die Ziegen links.
34 Dann wird der König zu denen auf der rechten Seite sagen: ›Kommt her, ihr seid von meinem Vater gesegnet! Nehmt das Reich in Besitz, das seit der Erschaffung der Welt für euch vorbereitet ist.
35 Denn ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig, und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war ein Fremder, und ihr habt mich aufgenommen;
36 ich hatte nichts anzuziehen, und ihr habt mir Kleidung gegeben; ich war krank, und ihr habt euch um mich gekümmert; ich war im Gefängnis, und ihr habt mich besucht.‹
37 Dann werden ihn die Gerechten fragen: ›Herr, wann haben wir dich denn hungrig gesehen und dir zu essen gegeben, oder durstig und dir zu trinken gegeben?
38 Wann haben wir dich als Fremden bei uns gesehen und haben dich aufgenommen? Oder wann haben wir dich gesehen, als du nichts anzuziehen hattest, und haben dir Kleidung gegeben?
39 Wann haben wir dich krank gesehen oder im Gefängnis und haben dich besucht?‹
40 Darauf wird der König ihnen antworten: ›Ich sage euch: Was immer ihr für einen meiner Brüder getan habt – und wäre er noch so gering geachtet gewesen – , das habt ihr für mich getan.‹
41 Dann wird er zu denen auf der linken Seite sagen: ›Geht weg von mir, ihr seid verflucht! Geht in das ewige Feuer, das für den Teufel und seine Engel vorbereitet ist!
42 Denn ich war hungrig, und ihr habt mir nicht zu essen gegeben; ich war durstig, und ihr habt mir nicht zu trinken gegeben;
43 ich war ein Fremder, und ihr habt mich nicht aufgenommen; ich hatte nichts anzuziehen, und ihr habt mir keine Kleidung gegeben; ich war krank und war im Gefängnis, und ihr habt euch nicht um mich gekümmert.‹
44 Dann werden auch sie fragen: ›Herr, wann haben wir dich denn hungrig oder durstig gesehen oder als Fremden oder ohne Kleidung oder krank oder im Gefängnis und haben dir nicht geholfen?‹
45 Darauf wird er ihnen antworten: ›Ich sage euch: Was immer ihr an einem meiner Brüder zu tun versäumt habt – und wäre er noch so gering geachtet gewesen – , das habt ihr mir gegenüber versäumt.‹
46 So werden sie an ´den Ort` der ewigen Strafe gehen, die Gerechten aber werden ins ewige Leben eingehen.«
(Mt.25,31-46)

Ich erinnere mich an eine Klassenarbeit in Mathe. Irgendwann in der achten Klasse oder so. Ein Blatt mit Aufgaben. Und Mathe war eigentlich nie mein Problemfach. Aber dass eine Klassenarbeit so dermaßen einfach sein konnte, war selbst für mich überraschend. Wir hatten 90 Minuten Zeit und ich war nach 30 Minuten fertig. Hab noch mal alle Ergebnisse überprüft und dann die Arbeit abgegeben. Hab mich noch gewundert, dass selbst die anderen Mathe-Asse in meiner Klasse noch wild am Schreiben waren, mir dann aber nichts weiter bei gedacht und hab auf dem Pausenhof auf die anderen gewartet. Als die dann kamen, hab ich sie gefragt, wie’s so war. Und die haben alle gestöhnt: „Boah, also die Rückseite hatte es echt in sich“. In dem Moment bin ich ziemlich blass geworden. „Welche Rückseite?“
Es stellte sich heraus, dass die Rückseite der Arbeit auf meinem Blatt tatsächlich nicht kopiert war. Und nachdem mein Mathelehrer das dann auch eingesehen hatte, wurde meine Arbeit halt nicht gewertet und ich musste dafür ein Referat halten oder so was…

Diese Geschichte von dem Weltgericht, die Jesus hier erzählt, klingt für mich, wie so eine übersehene Rückseite einer Klassenarbeit. Selbst wenn du die Vorderseite mit Bravour bestanden hast, reicht es nicht aus um die Rückseite auszugleichen. Und in diesem Fall geht es nicht um analytische Geometrie oder Analysis, sondern um das Thema: „Wie komme ich in den Himmel?“ Und die Prüfung dauert nicht 90 Minuten, sondern das ganze Leben. Und wenn du’s verkackst, kannst du leider nicht mit Sport oder Englisch ausgleichen.

Die Geschichte ist eindeutig, oder? Wer dem Notleidenden hilft, wird gerettet. Wer das nicht tut, wird verurteilt. Gute Taten = Himmel / Böse Taten = Hölle. Es gibt nur diese zwei Seiten. Man nennt dieses Prinzip: Werkegerechtigkeit. Und je nach Religion wird jetzt definiert, was gute Werke und was böse Werke sind. Und manchmal wird auch festgelegt, wie viel Gewicht die einzelnen Taten haben:
Oma über die Straße helfen = 1 Pluspunkt
Oma über die Straße helfen, die da gar nicht hinwill = 1 Minuspunkt
Jemanden umbringen = 1000 Minuspunkte
Jemanden umbringen, der nicht an deinen Gott glaubt = 1000 Pluspunkte (hat’s alles schon mal gegeben. Nicht nur im Islam.)
Das Opfer in der Klasse mobben = 10 Minuspunkte
Das Opfer in der Klasse nachher trösten = 5 Punkte (keine 10, die hätte es gegeben, wenn du vorher schon eingeschritten wärst)
Mit dem Kauf von Klamotten bei H&M, Primark oder C&A die Kinderarbeit in Bangladesch unterstützen = Naja, machen ja alle, also nur einen halben Minuspunkt (kriegen wir mit 2,-€ in die Kollekte am Sonntag wieder ausgeglichen)
Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken lassen = …

Was bei dem Beispiel von der Oma, der man über die Straße hilft, noch witzig ist, ist ab irgendeinem Punkt gar nicht mehr witzig. Wie soll man das denn bitte gegeneinander aufwiegen? Und müsste es dann nicht wenigstens Abstufungen geben, wie im Buddhismus? Nicht nur Himmel oder Hölle?
Wie kann Jesus zu der einen Gruppe sagen: „Ihr seid die Guten.“? Die müssen doch auch hier und da mal jemandem, der Not leidet, nicht geholfen haben. Sonst gäbe es ja keine Notleidenden mehr, oder? Und genauso umgekehrt: Wie kann er zu den anderen sagen: „Ihr seid die Bösen.“? Selbst die müssen doch, auch wenn es nur aus Versehen war, mal irgendwas Gutes getan haben, oder?

Jetzt rede ich schon ein paar Minuten und habe mich bisher nur über diesen Text aufgeregt. Über diese zweite Seite der Aufgabenstellung.
Ok, lasst uns mal bei der ersten Seite anfangen. Das Thema ist immer noch „Wie komme ich in den Himmel?“ Und die erste Aufgabe lautet „Was macht mich vor Gott gerecht?“ Paulus schreibt dazu im Römerbrief:

28 Denn wir gehen davon aus, dass man aufgrund des Glaubens für gerecht erklärt wird, und zwar unabhängig von Leistungen, wie das Gesetz sie fordert.
(Röm.3,28)

Paulus nimmt sich in dem Brief an die Römer viel Zeit um den Adressaten, also auch uns heute die bittere Wahrheit über uns vor Augen zu führen: Wir können in diesem perversen System der Wertegerechtigkeit, in der die Bilanz von guten und schlechten Taten über Gedeih und Verderb entscheidet, nicht bestehen.
Im siebten Kapitel des Römerbriefs sagt er sogar, dass selbst unsere Anstrengungen Gutes zu tun, letztlich immer scheitern, und wir doch wieder das Böse tun. Und an diesem Tiefpunkt der bitteren Erkenntnis über uns selbst schreibt er dann:

1 Müssen wir denn nun noch damit rechnen, verurteilt zu werden? Nein, für die, die mit Jesus Christus verbunden sind, gibt es keine Verurteilung mehr.
(Röm.8,1)

Das ist Glaube: Mit Jesus verbunden sein. Das allein macht uns vor Gott gerecht. Und an dieser Stelle endet die erste Seite der Klausur. Und wir blättern um. Und als Einleitung für die zweite Seite steht nun da:

4 So kann sich nun in unserem Leben die Gerechtigkeit verwirklichen, die das Gesetz fordert, und zwar dadurch, dass wir uns vom Geist ´Gottes` bestimmen lassen und nicht mehr von unserer eigenen Natur.
(Röm.8,4)

Der Anspruch von Gottes Gerechtigkeit an uns ist damit nicht erschöpft, dass er uns gerecht gesprochen hat. Nein, jetzt geht’s an die Aufgaben mit den Punkten. Die kniffligen. Die, für die man die meiste Zeit in der Arbeit braucht. Aber diese Aufgaben sind nicht unmöglich. Sie sind jetzt machbar, weil wir das Zwischenergebnis von der ersten Seite auf die zweite Seite übertragen: Gott hat mich gerecht gesprochen. Jetzt leitet mich sein Geist an in dieser Gerechtigkeit zu leben.

Die nächste Teilaufgabe in dieser Klausur lautet: „Woran wird der Glaube sichtbar?“ Das ist eine spannende Frage. Woran erkennt man, dass jemand glaubt?
Wir würden vielleicht sagen, daran, dass jemand in die Kirche geht. Dazu hat mal jemand gesagt: „Ein Besuch in der Kirche macht dich genauso wenig zu einem Christen, wie ein Besuch bei McDonalds dich zu einem Hamburger macht.“
Oder wir würden sagen, dass jemand, der glaubt, daran zu erkennen ist, dass er betet und in der Bibel liest oder wenigstens irgendwann mal Jesus sein Leben übergeben hat. Was auch immer das heißt.
Mittlerweile glaube ich, dass all diese Indikatoren nur sehr oberflächlich sind, quasi alle noch von der ersten Klausurseite stammen. Jakobus, der im Übrigen ein leiblicher Halbbruder von Jesus war, schreibt in seinem Brief darüber, woran man den Glauben erkennt:

24 Ihr seht also, dass der Glaube allein nicht genügt; ein Mensch wird nur dann von Gott für gerecht erklärt, wenn sein Glaube auch Taten hervorbringt.
(Jak.2,24)

Woran wird der Glaube sichtbar? Daran, dass wir genau das tun, was Jesus in seiner Geschichte über das Weltgericht von den Gerechten sagt. Werden wir durch diese Taten gerecht? Nein, niemals. Gerecht sind wir allein durch den Glauben, aber der bringt Taten hervor.

Ich komme schon langsam zum Ende. Und das, obwohl ich zu dem Text an sich noch gar nicht viel gesagt habe. Ich bin noch gar nicht auf die Schafe und die Böcke eingegangen. Ich bin nicht im Detail darauf eingegangen, was sie nun getan oder nicht getan haben. Oder woher es kommt, dass beide Parteien keine Ahnung haben, wovon Jesus überhaupt spricht. Und keine Sorge: Das werde ich jetzt auch nicht mehr tun. Ich hoffe aber, ich konnte uns einen Zugang zu der Perspektive auf diesen Text öffnen, durch die wir diese Geschichte lesen und verstehen dürfen.

Ein Aspekt, der mir durch dieses Gleichnis an Jesus einmal mehr deutlich geworden ist: Jesus stellt sich immer und bedingungslos auf die Seite der Armen, Elenden und der ungerecht Behandelten. Immer. Er macht sich ganz mit diesen Menschen eins, so sehr, dass er in dieser Geschichte sogar sagt: Was ihr ihnen getan bzw. nicht getan habt, habt ihr mir getan, bzw. nicht getan.
Wir als diejenigen, die behaupten mit Jesus verbunden zu sein und uns daraus unsere Rechtfertigung versprechen, werden uns daran prüfen lassen müssen, ob wir uns an seiner Stelle wiederfinden oder nicht. Denn wie können wir mit Jesus verbunden sein, wenn wir nicht dort sind, wo er ist?

Das ist die Rückseite der Klausur zum Thema „Wie komme ich in den Himmel?“ Die Vorderseite hat sich damit beschäftigt, dass wir „der Liebe bedürftig“ sind und sie von Gott geschenkt bekommen. Wir werden gerecht gesprochen durch unsere Verbundenheit mit Jesus Christus. Die Rückseite handelt von der Konsequenz davon. Nämlich, dass es unsere Aufgabe als Beschenkte und mit Jesus Verbundene ist diese Liebe weiterzugeben an die, die ebenfalls „dieser Liebe bedürftig“ sind.

Lasst uns die Klausur also nicht abgeben, bevor wir nicht die Rückseite bearbeitet haben.

Amen.