Die Zeit ist reif

Die Zeit ist reif

Mt 9, 35-38; 10, 1.5-7      1. Sonntag nach Trinitatis – Großgrabe/Oßling, am 23. Juni 2019

„Jesus ging ringsum in alle Städte und Dörfer, lehrte in ihren Synagogen und predigte das Evangelium von dem Reich und heilte alle Krankheiten und alle Gebrechen. Und als er das Volk sah, jammerte es ihn; denn sie waren verschmachtet und zerstreut wie die Schafe, die keinen Hirten haben. Da sprach er zu seinen Jüngern: Die Ernte ist groß, aber wenige sind der Arbeiter. Darum bittet den Herrn der Ernte, dass er Arbeiter in die Ernte sende. Und er rief seine zwölf Jünger zu sich und gab ihnen Macht über die unreinen Geister, dass sie die austrieben und heilten alle Krankheiten und alle Gebrechen. Diese Zwölf sandte Jesus aus, gebot ihnen und sprach: Geht nicht den Weg zu den Heiden und zieht in keine Stadt der Samariter, sondern geht hin zu den verlorenen Schafen aus dem Hause Israel. Geht aber und predigt und sprecht: Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen.“

Liebe Gemeinde! Die Zeit ist reif. Aber wofür? Jesus lässt seine Zuhörer auf reifes Getreide blicken. Kornfelder wiegen sich gelb schimmernd in der Mittagssonne. Das Korn muss vom Halm, die Zeit ist reif. Ernte ist ein Bild für Gottes Gericht. Die Frage steht zur Debatte: Was hat der Mensch auf dem Feld seines Lebens hervorgebracht? Jetzt ist seine Zeit um. Es wird geschnitten und gesammelt. Stroh oder Korn? Wie hoch ist der Ertrag?, fragt Gott in Gestalt des Bauern. Ernte – ein Bild für Gottes Plan – ist am Ziel. In unserem Text liegen die Dinge anders. Der Schlusssatz lautet ja: „Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen.“ Es geht sozusagen erst los. „Ernte“ ist an dieser Stelle kein Bild für Abrechnung, sondern Zuwendung. Bevor Jesus von der Ernte spricht, wird von Zuwendung gesprochen. Er geht zu den Menschen, so beginnt´s: „Jesus ging ringsum in alle Städte und Dörfer.“Er macht sich ein Bild, ist vor Ort, wie eben ein Bauer seine Felder abläuft und betrachtet. Er tritt als Lehrer und Prediger auf:„…er lehrte in ihren Synagogen und predigte das Evangelium vom Reich.“Was hat er wohl gesagt? Es müssen Worte von der Nähe des liebenden Gottes gewesen sein, als er predigte: Gott, liebe Leute, ist zum Anfassen nah, er ist voller Liebe zu jedem. Fasst Mut! Mitten in der Predigt dann die Widerstände: Krankheiten und Gebrechen, körperliche Krankheiten, gebrochne Herzen, verwundete Seelen. Menschen in Schmerzen, die sich quälen mit Schuldgefühlen oder ihr Schicksal als Strafe sehen. Die Freude geknebelt, die Hoffnung im Kerker, der Glaube auf der Anklagebank. Und nun das: „…und er heilte alle Krankheiten und alle Gebrechen.“– Es mag 10, 12 Jahre her sein, da besuchte ich eine Familie. Wir saßen am Kaffeetisch, mit ihren zwei jugendlichen Töchtern. Es ging um das Thema Krankheit und Heilung. Die Bibel erzählt, dass Jesus geheilt hat. Ja, ja. Passiert das heute auch noch? Jesus ist doch auferstanden, ist auch heute mitten unter seinen Leuten. Es gibt aber so viele Kranke. Ist uns eine bestimmte Form der Heilkunst verloren gegangen? Hat die Kirche die Technik Jesu verlernt? Während wir solche Gedanken bewegten, fing die jüngere Tochter an: Für mich hat mal jemand in der Jungen Gemeinde gebetet, das hat mir geholfen. Auch ich erinnerte mich: Als ich im Studium von einer Stunde auf die andere diese rechtsseitige Gesichtslähmung bekam, der Arzt nur sagte, das würde Monate dauern, hat mein Vater für mich gebetet. Nach ein paar Tagen war ich gesund … Als ich mich von der Familie verabschiedete, freute und schämte ich mich ein wenig. Da hatten wir debattiert, warum scheinbar in der Kirche das Thema Heilung vergessen ist. Und dann konnte jeder eine Geschichte erzählen, wo für ihn gebetet wurde und er gesund geworden ist. – Tag für Tag, Monat um Monat war Jesus durch Dorf und Stadt, Haus und Zelt gewandert. Hin zu den Menschen. Jetzt zieht er eine erste Bilanz. Im Geist lässt er alle Begegnungen vorüberziehen. Was habe ich gesehen, gehört, gefühlt? So mag er einige Stunden mit geschlossnen Augen an einem einsamen Ort gesessen haben, gesammelt, konzentriert. Und da überwältigt ihn dieses Gefühl: „Und als er das Volk sah, jammerte es ihn.“Das ist ein seltenes Wort im NT und wird nur für Jesus verwendet: „…und es jammerte ihn.“Wörtlich: es ging ihm durch die Gedärme, durch Mark und Bein, durch die Magengrube, lässt das Herz erbeben, die Haut erzittern. Was hatte er mit seinem Verstand, seinem Gefühl wahrgenommen? So vielen war er täglich begegnet, die am Ende ihrer Lebenskraft waren. Die den Sinn und das Ziel ihres Lebens aus den Augen verloren hatten. Verkrümmte und durch Angst gebundene Seelen: „Und als er das Volk sah, jammerte es ihn, denn sie waren verschmachtet und zerstreut wie die Schafe, die keinen Hirten haben.“ Dafür, um die Frage vom Anfang zu beantworten, dafür ist die Zeit reif: Diesen Menschen beizustehen. Ernte – keine Abrechnung, sondern Zuwendung. Das Erntewort Jesu kommt aus dem Bauch, das ist sein Bauchgefühl: „Die Ernte ist groß.“ Das ist ein Appell. Mensch Leute, sagt Jesus, welcher Bauer würde bei reifen Korn und gutem Wetter sagen: Hat noch bis zum Herbst Zeit. Man sieht ihn die Ärmel hochkrempeln – das Korn muss geborgen, geschützt werden, darf nicht verloren gehen, muss in die Scheuer. Die Ernte – das ist der Adressatenkreis des Evangeliums. So viele, denen noch die heilende Nähe Gottes angesagt werden muss. Der Körper braucht Brot, die Seele liebende Zuwendung. Wendet euch dem andern zu. Das ist Jesu Appell. Aber warum das jetzt? „…aber wenige sind der Arbeiter.“ Diese Frage läuft wie ein treuer Hund neben der Kirche her, die durch die Zeiten wandert. Was ist mit den Menschen, die das Evangelium von Rettung und Himmel, Vergebung und Gnade, Heil und Heilung gehört und angenommen haben? Träger einer wunderbaren Botschaft – und so in sich gekehrt? Warum gibt es so wenige Erntehelfer? Leute, denen die Ernte am Herzen liegt? – Wir stehen durch diese Frage in einer doppelten Gefährdung. Die erste richtet sich nach innen. Wir nennen sie Schuldgefühl. Ach ja, der Pfarrer hat ja so recht, ich müsste mehr machen. Müsste, sollte, hätte, könnte. Bei solchen Gedanken fühlt man sich aber so was von mies. Jeder sollte davon Abstand halten. Keiner kann es ändern, wenn einem die Spatzen um den Kopf schwirren. Aber dass sie ein Nest dort bauen. Jesus produziert keine Schuldgefühle. Das machen Menschen mit ihren unsäglichen Forderungen. Die andere Gefährdung richtet sich nach außen: Wir brauchen mehr Leute, wir müssen mehr motivieren, uns besser darstellen, mehr Außenwirkung und Werbung. Also noch mehr machen. Aktionismus sagen wir zu dieser Fehlhaltung. Es lohnt sich für Kirche und Gemeinde, an dieser Stelle denWeg in den Blick zu nehmen, den Jesus weist: Gebet. „Darum bittet den Herrn der Ernte, dass er Arbeiter in die Ernte sende.“Weder Schuldgefühl noch Aktionismus. Beides wirkt vergiftend und zerstörerisch. Beten. Das ist die Übung. Es braucht keine große Stärke, sondern Vertrauen auf den großen, starken Gott. Beten. Ich sehe meine begrenzten Möglichkeiten und schaue zugleich auf das Wort: „Bei Gott ist kein Ding unmöglich.“Beten. Ich blicke auf Menschen in Nöten, Gemeinden in der Krise, ratlose Kirchen – und erbitte Hilfe, Weisheit und Beistand, für mich und andere. Wo andere nur menschliches Elend sehen, sieht der Beter schon die volle Ernte heranreifen. Beten. Dass Gott uns die rechten Leute zur Seite stelle. Ist jemand krank, so will ich für ihn beten, ihm die Hände auflegen, um Heil und Heilung bitten. Aber der große Arzt, das ist Jesus, nicht der Beter. Beten: „Die Ernte ist groß, aber wenige der Arbeiter. Darum bittet den Herrn der Ernte, dass er Arbeiter in seine Ernte sende.“ Betet. Die Zeit ist reif.  Amen.

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