Ermutigung zur Klage (Oßling)

Ermutigung zur Klage (Oßling)

Klagelieder 3, 1-44                                                         16. Sonntag nach Trinitatis – Oßling, am 01.10.2017

 

„Ich bin ein Mann, der Elend sehen muss durch die Rute des Grimms Gottes. Er hat mich geführt und gehen lassen in die Finsternis und nicht ins Licht. Er hat seine Hand gewendet gegen mich und erhebt sie gegen mich Tag für Tag. Er hat mir Fleisch und Haut alt gemacht und mein Gebein zerschlagen. Er hat mich ringsum eingeschlossen und mich mit Bitterkeit und Mühsal umgeben. Er hat mich in Finsternis versetzt wie die, die längst tot sind. Er hat mich ummauert, dass ich nicht heraus kann, und mich in harte Fesseln gelegt. Und wenn ich auch schreie und rufe, so stopft er sich die Ohren vor meinem Gebet. Er hat meinen Weg vermauert mit Quadern und meinen Pfad zum  Irrweg gemacht. Er hat auf mich gelauert wie ein Bär, wie ein Löwe im Verborgenen. Er lässt mich den Weg verfehlen, er hat mich zerfleischt und zunichte gemacht. Er hat seinen Bogen gespannt und mich dem Pfeil zum Ziel gegeben. Er hat mir seine Pfeile in die Nieren geschossen. Ich bin ein Hohn für mein ganzes Volk und täglich ihr Spottlied. Er hat mich mit Bitterkeit gesättigt und mit Wermut getränkt. Er hat mich auf Kiesel beißen lassen, er drückt mich nieder in die Asche. Meine Seele ist aus dem Frieden vertrieben; ich habe das Gute vergessen. Ich sprach: Mein Ruhm und meine Hoffnung auf den Herrn sind dahin. Gedenke doch, wie ich so elend und verlassen, mit Wermut und Bitterkeit getränkt bin! Du wirst ja daran gedenken, denn meine Seele sagt mir´s. Dies nehme ich zu Herzen, darum hoffe ich noch: Die Güte des Herrn ist´s, dass wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu, und deine Treue ist groß. Der Herr ist mein Teil, spricht meine Seele; darum will ich auf ihn hoffen. Denn der Herr ist freundlich dem, der auf ihn harrt, und dem Menschen, der nach ihm fragt. Es ist ein köstlich Ding, geduldig sein und auf die Hilfe des Herrn hoffen. Es ist ein köstlich Ding für einen Mann, dass er das Joch seiner Jugend trage. Er sitze einsam und schweige, wenn Gott es ihm auferlegt, und stecke seinen Mund in den Staub; vielleicht ist noch Hoffnung. Er biete die Backe dar dem, der ihn schlägt, und lasse sich viel Schmach antun. Denn der Herr verstößt nicht ewig; sondern er betrübt wohl und erbarmt sich wieder nach seiner großen Güte. Denn nicht  von Herzen plagt er … wer darf denn sagen, dass solches geschieht ohne des Herrn Befehl und dass nicht Böses und Gutes kommt aus dem Munde des Allerhöchsten? Was murren denn die Leute im Leben? Ein jeder murre wider seine Sünde. Lasst uns erforschen und prüfen unseren Wandel und uns zum Herrn bekehren! Lasst uns unser Herz samt den Händen aufheben zu Gott im Himmel. Wir, wir haben gesündigt und sind ungehorsam gewesen, darum hast du nicht vergeben.“

 

Liebe Gemeinde! Ein Kernsatz, ein Spitzensatz Jesu: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen.“ Dieser Ruf bewegt, hat Tiefe. Eine äußerste Zuspitzung. Eine Klage, eine Anklage mit Adresse. An Gott. Glaube und Klage. Klagloser Glaube ist belangloser Glaube. Klage hat mit Tiefe zu tun. Von dort kommt sie. „Aus der Tiefe rufe ich, Gott, zu dir.“ (Ps 130)Wie sträflich wäre es von mir, ich würde euch den  „lieben Gott“ einreden, und euch den befremdlichen, unverständlichen, unheimlichen Gott verschweigen. Die tragende Kraft der Klage erfahren Menschen erst in Tiefen. Jeremias Klageworte passen für Eltern, die ein Kind verloren haben.  Auf eine Krebsstation auch. Für Menschen, die schwere Brüche ihres Lebens erleben, nicht ersetzbare Verluste. Für Trauernde die keinen Trost kennen. – Die Juden haben diese Klagen auf ihre Wege durch die Geschichte mitgenommen, sie waren ihnen Wegbegleiter in Verfolgung und Pogromen. Worte für trostlose Schreckensorte. So, wie das zerstörte Jerusalem, die vielen Toten nach dem Krieg, die Überlebenden in die Sklaverei. Das ist doch Gottes Volk, Gottes Stadt und sein Tempel. Der klagende Jeremia muss, weil er Gott glaubt, Gott klagen, anklagen. Er ist der tiefste Grund seines Elends. Er, Gott, ängstet und bedroht mich. Gott als der Verursacher von Übel. Wie gut, tröstlich, dass die Bibel solche Texte hat. Wenn man sie nur auswendig wüsste, für Zeiten, wenn der Glaube an den „lieben Gott“ ins Koma fällt. – Als Erstes benenne ich eine Erfahrung: Die Klage löst aus der Erstarrung und aus der Ohnmacht.  Es wird aushaltbarer, indem ich es ausspreche. Weil ich als Klagender wieder Handelnder werde. Das haben wir als Kinder doch so erfahren. Wenn wir hingefallen waren oder uns Unrecht widerfahren war. Wie tröstlich ist es einem Kind, wenn es seinen Schmerz – oft auch unter Tränen – sagen darf. Es gewinnt wieder Vertrauen, steht auf und läuft ins Leben zurück. Bei uns Erwachsenen geht es um viel mehr als um ein aufgeschlagenes Knie. In der Klage bahnt sich der Schmerz Raum und fließt. Wenn einer klagt, Gott klagt – lass ihn. Die Bibel sagt: Du darfst klagen. Als Zweites wird deutlich: Mein Klagen braucht einen Adressaten. Es muss jemanden geben, der meine Klage hört und aushält. Sonst blieben wir im Schimpfen stecken. Sicher, es tut gut, auf den Staat und die Regierung und auf die komischen Nachbarn zu schimpfen. Scheinbar sind die ja sowieso an allem Schuld. Meine eigene Not wird durch Schimpfen jedoch nicht kleiner. Betörend hingegen finde ich den Gedanken, Gott, den Höchsten, mit meiner Klage in den Ohren zu liegen. So, wie es jüdische Menschen an der Klagemauer tun. Ich stelle mir vor, wie wir Gott mit unserer Klage ins Leben herabnötigen. Wir möchten ihn doch wieder spüren und erfahren. Auch, gerade im Leid. Aber Gott im Leid erfahren – glaube ich – können wir nur auf dem Weg der Klage. Wir dürfen Gott so ehrlich konfrontieren wie der Beter des Klageliedes. Ihm entgegenschreien all das, was er mir zumutet. Liebe Gemeinde, wohltuend ist es, wenn jemand mein Klagen mit mir trägt. Eine Gemeinschaft der Klagenden ist ein Geben und Nehmen. Einer klagt, die andern hören zu. Aus diesem Grund können wir auch nicht allein glauben und leben. Wir brauchen andere Menschen dazu. Die Gemeinschaft der Heiligen. Denn auch ich, mit meiner eigenen Erfahrung und mit meinem eigenen Klagen, werde gebraucht als jemand, der zuhören kann, im richtigen Moment am richtigen Ort. Dann bin ich eben derjenige, der des andern Schicksal tragen hilft. Darum glaube ich an die Gemeinschaft der Klagenden. In ihr wohnt Gott. Und erinnern wir uns an die Worte Jeremias, sein Ach, sein Weh: „Ich bin ein Mann, der Elend sehen muss durch die Rute des Grimms Gottes. Er hat mich in Finsternis versetzt, wie die, die längst tot sind. Er lässt mich den Weg verfehlen, er hat mich zerfleischt und zunichte gemacht.“ So läuft die Klage zu Gott in vielen schmerzlichen Klagerufen. So hat sich die Verzweiflung Bahn gemacht, wie ein Hochwasser sich ausläuft auf den weiten Flussauen. Und er kann klagend rufen: „Die Güte des Herrn ist´s, dass wir nicht gar aus sind… Der Herr ist freundlich dem, der auf ihn harrt, und dem Menschen, der nach ihm fragt. Vielleicht ist noch Hoffnung.“ Es gibt auch das „vielleicht“ des Glaubens. Großartig.  Luft holen, aufblicken und rufen: vielleicht, „vielleicht ist noch Hoffnung.“ Als Letztes führt uns so der Weg des Klagens zu uns selbst und damit zu Gott. Denn wer sich auf den Weg der Klage begibt, begibt sich auf den Weg einer leisen Hoffnung. Im Klagen stelle ich mich der Frage, was mir überhaupt fehlt. Was suche ich mit meinem Leben? Wen oder was habe ich verloren? Immer kann ich doch diesen Fragen nicht aus dem Weg gehen. Verloren zu haben kann unendlich wehtun. Die Klage deckt den Schmerz und die Schuld auf. Indem ich erkenne, was ich verlor, wo ich schuldig wurde, kann ich aber auch erkennen, was ich vermisse und was ich brauche: „Wer darf denn sagen, dass solches geschieht ohne des Herrn Befehl und dass nicht Gutes und Böses kommt aus dem Munde des Allerhöchsten? Was murren denn die Leute im Leben? Ein jeder murre wider seine Sünde!“ Wir werden Arbeitslosigkeit, Ausgrenzung, Schuld, Vergehen und Armut nicht gutreden können. Wir werden den Tod nicht im Vergnügungspark überspielen. Wir werden die Trauer um einen Menschen oder eine gescheiterte Beziehung im Urlaub nicht einfach vergessen. Schenken wir der Klage in uns Raum. Wir werden uns in ihr selbst wiederfinden. Am tiefsten Grund der Klage werden wir eine Antwort darauf erhalten, was uns jetzt am Leben hält. In ihr liegt die Kraft, die Gott uns zum Aufstehen schenkt und zum Weitergehen. Jeremia empfängt im Klagen Kraft, einen kleinen Glauben, so dass er flüstern kann: „Seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu, und deine Treue ist groß. Der Herr ist freundlich dem, der auf ihn harrt, und dem Menschen, der nach ihm fragt.“ Ich glaube an die Gemeinschaft der Klagenden, sie ist die Gemeinschaft der Heiligen.  – Der Gottesdienst nähert sich seinem Ende. Wir verlassen dann unsere Kirche und gehen zurück in unsern Alltag. Hat diese Stunde, die Ermutigung zur Klage, etwas in uns in Bewegung gebracht? Ob wir sagen können: Diese Stunde hat mir gutgetan? Wenn ja, denke ich liegt es daran, dass sich manchmal in uns etwas verändert. Wenn wir mit unserer Last wie vor einer Klagemauer stehen und sich mein Leid Bahn bricht. Plötzlich spüren wir, dass wir nicht allein sind, dass mir jemand zuhört, mich ermutigt zu sein, zu sagen, wie mir zumute ist. Nämlich in der Gemeinschaft der Heiligen um mich herum. Es wächst mir Mut zu, weiterzuerzählen und weiterzuleben. Manchmal kann ich sogar weinen und ich muss mich dafür nicht schämen. Es kehrt diese einzigartige Kraft zu mir zurück. Und ich spüre, dass ich lebe. Nicht in Milch und Honig. Aber in Gottes Barmherzigkeit, die nicht aufhört. Seiner Güte, die neu ist alle Morgen. Amen.

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