(Er)Wartungsarbeiten

(Er)Wartungsarbeiten

Hallo,

schön euch hier zu sehen. Ich freue mich darauf, diesen Gottesdienst mit euch zu erleben. Und dadurch, dass wir uns in der Vorbereitung dieses Mal dazu entschlossen haben den Ablauf etwas umzugestalten, stehen wir tatsächlich auch noch ziemlich am Anfang dieses Gottesdienstes. Deshalb mal die Frage an dich: Was erwartest du von diesem Gottesdienst? Was war vielleicht auch deine Motivation heute hier herzukommen? Gewohnheit? Oder bist du hier, weil du dich als Teil dieser Gemeinde verstehst und dich hier einfach wohl fühlst? Musstest du kommen, weil du einen Dienst übernommen hast? Bist du hier, weil dich jemand eingeladen hat und du einfach neugierig bist? Oder bist du tatsächlich mit einer ganz konkreten Erwartung an Gott heute hier? Wenn Gott dir jetzt die Frage stellen würde, was er dir heute in diesem Gottesdienst Gutes tun kann, was würdest du antworten?

In der Geschichte, über die ich heute predigen möchte, hat Jesus einem Menschen genau diese Frage gestellt: „Was willst du, dass ich dir tun soll?“ Und diese Geschichte ereignet sich an einem Wendepunkt im Leben von Jesus. Knapp drei Jahre lang hat Jesus jetzt öffentlich gepredigt, Kranke geheilt, Wunder gewirkt, Dämonen ausgetrieben und immer wieder seine Jünger gelehrt – oder versucht zu lehren -, was es bedeutet ihm zu vertrauen.
Als Nächstes wird Jesus nach Jerusalem einziehen. Dort wird er nach nicht mal einer Woche zum Tode verurteilt und hingerichtet werden und nach drei Tagen von den Toten auferstehen.
Mit dieser Geschichte endet also quasi der öffentliche Heilungsdienst von Jesus. Grund genug, genau hinzusehen, was uns Gott in seinem Wort an dieser Stelle zeigen möchte. Ich lese uns die Geschichte aus Markus 10,46-52:

46 Und sie kommen nach Jericho. Und als er und seine Jünger und eine große Volksmenge aus Jericho hinausgingen, saß der Sohn des Timäus, Bartimäus, ein blinder Bettler, am Weg.
47 Und als er hörte, dass es Jesus, der Nazarener, sei, fing er an zu schreien und zu sagen: Sohn Davids, Jesus, erbarme dich meiner!
48 Und viele bedrohten ihn, dass er schweigen sollte; er aber schrie umso mehr: Sohn Davids, erbarme dich meiner!
49 Und Jesus blieb stehen und sagte: Ruft ihn! Und sie rufen den Blinden und sagen zu ihm: Sei guten Mutes! Steh auf, er ruft dich!
50 Er aber warf sein Gewand ab, sprang auf und kam zu Jesus.
51 Und Jesus antwortete ihm und sprach: Was willst du, dass ich dir tun soll? Der Blinde aber sprach zu ihm: Rabbuni, dass ich sehend werde.
52 Und Jesus sprach zu ihm: Geh hin, dein Glaube hat dich geheilt! Und sogleich wurde er sehend und folgte ihm auf dem Weg nach.
(Mk.10,46-52, ELB)

Schon wieder eine Heilungsgeschichte. Wer letzten Monat im Lichtblick war, erinnert sich vielleicht an die Predigt von Pfr. Nicolaus über die Heilung eines Gelähmten am Teich Betesda. Und doch ist diese Geschichte so völlig anders.
Zunächst mal haben wir es hier nicht mit irgendeinem Patienten zu tun, sondern mit Bartimäus, ein Mann mit einem Namen. Und wir erfahren, dass er arm und blind ist. Und als ob uns das nicht schon reichen würde um Mitleid mit ihm zu haben, bedeutet sein Name auch noch „Sohn der Trauer“ oder „Sohn des Elends“. Genauer gesagt bedeutet „Bartimäus, Sohn des Timäus“ sogar so viel wie „Sohn des Elends, der ein Sohn des Elends war“. Und das klingt ja irgendwie doppelt gemoppelt. Im Hebräischen kann das aber auch ein Stilmittel der Außenwirkung sein.
Um das zu erklären eine andere Stelle, an der dieses Stilmittel vorkommt. In Matthäus 7,22 spricht Jesus davon, dass Menschen zu ihm kommen werden und ihn mit „Herr, Herr“ ansprechen werden. Das erste „Herr“ richtet sich an Jesus: „Jesus, ich nenne dich meinen Herrn“. Das zweite „Herr“ richtet sich nach außen: „Leute, seht her, ich nenne Jesus ‚Herr’“ Aber das nur als kleiner Exkurs.
Auf Bartimäus bezogen bedeutet das: Bartimäus war nicht nur ein Sohn des Elends und sich dessen bewusst. Sondern er hat es auch alle wissen lassen, dass er ein Sohn des Elends ist. Wie das ein blinder Bettler halt so macht. Es reicht nicht nur der Blindenstock, der Blindenhund und die gelbe Binde mit den drei schwarzen Punkten. Nein, es braucht auch noch das Schild mit der Aufschrift: „BIN BLIND. KANN NIX SEHEN“. Das ist Bartimäus, Sohn des Timäus.

Solche Leute können bei allem Mitgefühl ganz schön anstrengend sein. Menschen, die dir immer wieder das Ohr vollheulen, wie schlecht es ihnen geht. Auch wenn sie noch so Recht damit haben. Beim ersten Mal hast du vielleicht noch Mitleid und Verständnis, aber irgendwann nervt es einfach nur noch. Und ich spreche hier nicht nur von dem Gefühlsmix aus Scham, Mitleid und Hilflosigkeit, wenn du in Dresden an einem Bettler vorbeigehst. Sondern ich spreche auch von Leuten aus deinem Bekanntenkreis, die dir ihr Leid klagen. Vielleicht zum wiederholten Mal.
Und ich kenne meine Reaktion auf Begegnungen dieser Art. Ich denke dann häufig: So will ich nicht sein. Ich will souveräner damit umgehen, wenn es mir nicht so gut geht. Reiß dich zusammen! Sei kein Jammerlappen!
Und das ist bestimmt auch manchmal nötig. Aber es kann auch ganz tragische Blüten tragen. Im Beispiel von dem Gelähmten am See Betesda – siehe Predigt vom letzten Monat – ist das Ergebnis nach 38 Jahren Elend Resignation. Beklagt wird sich nicht mehr. Man findet sich eben damit ab. Alle Hoffnung auf Veränderung ist begraben. Und man lebt dann eben bewusst oder unbewusst nach dem Motto: „Wer nichts mehr erwartet, wird zumindest  auch nicht enttäuscht.“

Ist das die Wahl, vor der wir stehen, wenn wir mit unserem Elend konfrontiert sind? Anderen damit auf den Wecker gehen oder uns resigniert damit abfinden?

Bartimäus hört davon, dass dieser Jesus von Nazareth an ihm vorbeizieht. Und wie es seine Art ist, macht er auf sich aufmerksam. „Sohn Davids, Jesus, erbarme dich meiner!“, ruft er. Und wie es die Art der Leute ist, die Bartimäus und sein Elend mittlerweile kennen, wollen sie ihn zum Schweigen bringen. Aber auch davon lässt sich Bartimäus nicht abhalten. „Sohn Davids, erbarme dich meiner!“, ruft er immer weiter.
Der Reaktion der Leute kann man entnehmen, dass ihnen dieser Bartimäus nicht mehr wirklich leid tat. Im Gegenteil, sie waren ihn leid. „Halt doch einfach die Klappe. Du nervst.“ Kann sein, dass sie ihm sogar Vorwürfe gemacht haben: „Vielleicht kannst du nichts dafür, dass du blind bist. Aber du brauchst dich nicht zu wundern, dass dich keiner leiden kann und dir keiner hilft, wenn du dich ständig so aufführst und dich nicht einfach mal mit deiner Situation arrangierst.“ Menschen können so unglaublich verletzend und entmutigend sein in ihrer eigenen Ohnmacht.
Das Erstaunliche ist nur, dass Bartimäus sich nicht entmutigen lässt. Man kann ihm bestimmt viel vorwerfen, aber nicht, dass er einfach die Flinte ins Korn wirft. Und man kann ihm auch nicht vorwerfen, dass er sich durch sein Defizit von seinem Potential abhalten lässt. Vielleicht kann er nicht gucken, aber schreien kann er. Vielleicht sehen seine Augen nichts, aber ironischer Weise sieht seine entschlossene Hoffnung etwas, was allen anderen, die sich ihres Augenlichts erfreuen, bislang verborgen geblieben ist. Er ruft nicht einfach nach Jesus, dem Wundertäter aus Nazareth. Er ruft nach Jesus, dem Sohn Davids, dem von Jesaja und anderen Propheten angekündigten Retter.
Vielleicht klang auch gerade diese Formulierung in den Ohren der Volksmenge einfach zu überzogen. „Was hast du denn für ein Bild von Jesus? Halt mal den Ball flach! Und schieb hier nicht so ne Welle!“

Vielleicht kennen wir solche Worte ja auch. Andere versuchen uns klar zu machen, dass Jesus nicht der ist, der heute noch genauso helfen kann wie damals. Der zwar durch Wunder und Heilungen bekannt geworden ist, aber sich aus dem Business nach seiner Auferstehung zurückgezogen hat. Oder es sind unsere eigenen Gedanken, die in uns Zweifel hervorrufen, ob Jesus entweder gar nicht die Macht hat, in unserem Leben einzugreifen, oder unser Anliegen einfach nicht wichtig genug für ihn ist.

Bartimäus, der Sohn des Elends, ruft nach Jesus, dem Sohn Davids. Und er lässt sich von niemandem davon abhalten. Er schreit nicht, weil er glaubt einen Rechtsanspruch auf Heilung zu haben. Er schreit um Erbarmen, weil er all seine Hoffnung in diesen Mann setzt.

Und Jesus hört sein Schreien und lässt ihn rufen. Und Bartimäus kommt angerannt. Nicht nur das. Ohne zu zögern springt er auf, lässt sogar sein Gewand fallen und kommt zu Jesus. Wie viele andere Möglichkeiten hätte es gegeben auf Jesus zu reagieren? Ich behaupte mal, von mir auf andere schließend, eine gewisse Skepsis wäre wohl eher zu erwarten gewesen. „Echt jetzt? Jesus ruft mich? Äh… damit habe ich jetzt gar nicht gerechnet. Ich meine ja, habe nach ihm gerufen, aber jetzt antwortet der mir auch noch. Sowas passiert doch sonst nur in der Bibel.“
Diese Reaktion von Bartimäus mal der Reaktion gegenüberzustellen, die ich von mir erwarten würde, zeigt mir ziemlich deutlich, was sprichwörtlich blindes Vertrauen im Gegensatz zu meinem oft halbherzigen Vertrauen ist. Vielleicht ist es genau diese Begegnung mit Bartimäus, die Jesus vor Augen hatte, als er später zu seinem Jünger Thomas, der nicht an seine Auferstehung glauben wollte, sagt:

29 […] Weil du mich gesehen hast, hast du geglaubt. Glückselig sind, die nicht gesehen und doch geglaubt haben!
(Joh.20,29; ELB)

Da steht Bartimäus also vor Jesus. Und als ob es nicht offensichtlich wäre, was sein Anliegen ist, fragt ihn Jesus: „Was willst du, dass ich dir tun soll?“ Und nach all den Jahren seiner Blindheit, bricht es aus dem Sohn des Elends heraus. Nicht als Anklage, nicht als Resignation, nicht als ungläubige Eventualität, sondern als hoffnungsvolle Erwartung: „Mein Meister, dass ich sehend werde“.

Ich musste drüber nachdenken, ob die Frage von Jesus tatsächlich so rhetorisch ist, wie sie im ersten Moment scheint. Selbst Bartimäus, bei dem sein Anliegen offenkundig sein Augenlicht sein müsste, hätte auch eine andere Bitte vor Jesus bringen können. Er hätte seine Armut thematisieren können und Jesus um finanzielle Versorgung bitten. Er hätte auch Jesus darum bitten können mal über den Umgang mit Behinderten zu predigen, weil die anderen ihn ja nicht mal zu Wort kommen lassen wollen.
Mir ist schon klar, dass das ein bisschen weit hergeholt erscheint. Jesus ist zu diesem Zeitpunkt ja schließlich weniger für seine finanziellen Zuwendungen als für wunderbare Heilungen bekannt. Also liegt es nahe ihn um Heilung zu bitten. Insbesondere, wenn man blind ist.

Aber trotzdem: Ich denke, es ist manchmal gar nicht so offensichtlich, was eigentlich der Kern des Problems ist. Wo stehst du da gerade gedanklich? Gibt es in deinem Leben Situationen, wo du dich auch als Sohn oder Tochter des Elends fühlst? Hast du dich wie Bartimäus auch nicht einfach mit dieser Situation arrangiert, sondern Jesus um Hilfe gerufen und stehst jetzt, nachdem er dich zu sich gerufen hat, vor ihm? Was antwortest du ihm auf die Frage, was du willst, dass er dir tut? Und ist das dann die „richtige“ Antwort?

Bartimäus spricht seinen Wunsch an Jesus aus und Jesus heilt ihn mit den Worten: „Geh hin, dein Glaube hat dich geheilt!“ Und an dieser Stelle kann man leicht aus der Bahn geworfen werden. Ich meine, es ist ja schön, dass Bartimäus durch seinen Glauben geheilt -oder wie es wörtlich übersetzt heißt sogar „gerettet“ – wird, aber was ist, wenn ich eben nicht so einen großen Glauben habe. Und ich habe Gott um etwas gebeten, aber dann hat’s halt nicht gereicht. Es ist ja schön, dass Bartimäus so voller Zuversicht Jesus hinterherbrüllt und ohne zu zögern auf ihn zurennt, als Jesus ihn ruft. Aber so bin ich nun mal nicht. Der traurige Teil der Wahrheit ist: Jesus hat das mit dem Glauben genauso gemeint, wie er’s gesagt hat. Der Glaube an Jesus ist die Grundlage der Rettung und in Bartimäus’ Fall die Grundlage seiner Heilung.
Aber der tröstende Teil der Wahrheit ist, dass der Glaube, wie ihn Bartimäus hier vorlebt, keine Charaktereigenschaft ist, die manche halt haben und andere nicht. Er ist auch nicht das Ergebnis frommer Anstrengung. Paulus schreibt im Brief an die Epheser:

8 Denn aus Gnade seid ihr gerettet durch Glauben, und das nicht aus euch, Gottes Gabe ist es.
(Eph.2,8; ELB)

Und wenn uns genau dieser Glaube fehlt, was hindert es uns, wenn wir vor Jesus stehen mit all unserem Elend, ihn genau darum zu bitten? So hat es ein Kapitel vorher ein Mann getan, der Jesus ebenfalls um ein Wunder gebeten hat. Ein Vater, der um Heilung für seinen Sohn bittet. Jesus hatte ihn mit seinem Unglauben konfrontiert und da heißt es:

24 Sogleich schrie der Vater des Kindes und sagte: Ich glaube. Hilf meinem Unglauben!
(Mk.9,24; ELB)

Glaube ist Voraussetzung für Rettung und Heilung. Und Glaube ist etwas, was Gott selbst in uns wirkt.

Das Ende der Geschichte möchte ich nicht unterschlagen. Bartimäus bleibt nicht in Jericho, sondern folgt Jesus auf seinem Weg nach. Bartimäus, der Sohn des Elends, lässt sein Elend hinter sich und folgt Jesus nach.
Ich muss mit ein bisschen Skepsis schmunzeln, weil ich ja weiß, wie die Geschichte weitergeht. Jetzt kommt nur noch der Einzug nach Jerusalem und dann ist es mit der Jesus-Begeisterung und der Treue seiner Nachfolger auch erst mal vorbei. Wir können nur mutmaßen, was das für Bartimäus bedeutet hat, denn der Bericht über ihn enden hier. Durch die Formulierung „folgte ihm auf dem Weg nach“ lässt sich aber vermuten, dass er auch nach Jesu Auferstehung einer derjenigen war, die „des Weges“ waren, wie die Christen anfangs genannt wurden. Ob das stimmt? Werden wir sehen, sagte der Blinde.

Ich komme zum Schluss. Die Geschichte von Bartimäus sticht am Ende des öffentlichen Wirkens von Jesus noch einmal in besonderer Weise heraus. Während sonst der Fokus in den Geschichten häufig sehr stark und vollkommen zurecht auf Jesus gerichtet ist, wird hier die Perspektive von Bartimäus beleuchtet. Und ich denke, dass wir dadurch mit hineingenommen werden sollen in die Situation, in der wir uns selbst auch immer wieder befinden können. Ganz egal, worin unsere Blindheit, unsere Armut oder unser Elend besteht.
Bartimäus hat sich nicht geschämt, sein Elend sichtbar zu machen. Unabhängig von der Reaktion der Leute. Wir sind dazu ermutigt unseren eigenen Umgang mit dem, was uns bedrückt, auf den Prüfstand zu stellen. Vielleicht haben wir an irgendeinem Punkt Resignation mit dem Deckmantel von innerer Stärke bekleidet.
Bartimäus hat sich nicht abbringen lassen von den Stimmen, die ihn von seinem Rufen nach Jesus abhalten wollten. Und so ist es auch für uns eine Ermutigung von Jesus alles zu erwarten. So können wir voller Hoffnung ihn als den sehen, der er ist, unser Retter.
Bartimäus springt auf, als Jesus ihn ruft und rennt zu ihm. Er sagt ihm, was er sich wünscht und Jesus erhört seine Bitte, weil er seinen Glauben sieht. Und diesen Glauben will Gott nicht nur auch in uns sehen. Er will ihn auch in uns bewirken.
Amen.