Neujahr

Neujahr

Hes 36,26                                                                     Neujahr – Großgrabe, am 01.01.2017

„Gott spricht: Ich schenke euch ein neues Herz und lege einen neuen Geist in euch.“

Liebe Gemeinde am Neujahrstag! Neujahr. Oft kommt mir dieser Tag stiller vor als andere Tage, stiller noch als andere Feiertage im Jahr. Das liegt sicher an dem langen Abend und der kurzen Nacht. Es liegt auch an dem Lärm der Silvesternacht. Verraucht sind die Feuerwerke. Nun ist die Stille noch deutlicher zu hören, noch dazu, wo heute Sonntag ist. In diesen Momenten der Stille kommen mir Gedanken, die an anderen Tagen wenig Raum haben. Während die Welt stillzustehen scheint, kann ich die Welt und mein Leben mit mehr Ruhe betrachten. In diese Stille hinein spricht Gott die wunderbaren Worte (Hesekiel 36,26): „Ich schenke euch ein neues Herz und lege einen neuen Geist in euch.“ Worte, wie gemacht für einen neuen Anfang, wie gemacht für Neujahr. Für einen Augenblick will ich mit Ihnen die Welt betrachten, in die hinein der Prophet Hesekiel diese Worte Gottes gesprochen hat. Die Lebenszeit Hesekiels ist von massiven politischen Umbrüchen geprägt. Mehrere Großmächte streiten um die Vorherrschaft: Ägypten im Westen, im Osten erst Assyrien, später Babylonien. Die Großmacht Assyrien gerät zunehmend unter Druck der Babylonier, bis sie schließlich von diesen besiegt wird. Der mittlere Osten ist nicht erst heute eine politisch instabile Region. In dieser Situation sind das Land Juda, in dem das Volk Israel lebt, und dessen Machthaber in Jerusalem mal von der einen, mal von der anderen Seite abhängig. Schließlich entpuppt sich die Entscheidung, sich gegen die Babylonier auf die Seite der Ägypter zu stellen, als Fehlentscheidung. 587 vor Christus erobern die Babylonier Juda und Jerusalem. Sie deportieren die Oberschicht des Landes. Hesekiel, Sohn eines Priesters, gehört zu dieser und wird von Jerusalem nach Babylonien weggeführt. Hier beginnt seine prophetische Wirksamkeit. Er findet kritische Worte gegen das Volk und dessen Machthaber. Betrachte ich die Welt und die Zeit, in der Hesekiel lebt, erkenne ich in ihm einerseits einen Mann des Glaubens, aber auch den politisch denkenden Menschen. Als dieser spricht er zu den politisch Verantwortlichen und den Personen in wirtschaftlichen Spitzenpositionen. Oder, wie er sagt, zu den Hirten seines Volkes: „Wehe den Hirten, die sich selbst weiden!“ (Hesekiel 34,2) Hesekiel stellt das Gemeinwohl vor den Eigennutz. Hirten des Volkes, die politisch und gesellschaftlich Verantwortlichen, haben hier eine besondere Verantwortung. Sie handeln für andere, für ihr Volk, für Menschen, die ihnen anvertraut sind. Das sind klare Worte des Propheten an die Menschen, vor allem an die Verantwortungsträger seiner Zeit. Es bleibt nicht bei diesen kritischen Worten. Als alles zerbrochen ist, Jerusalem in weiten Teilen zerstört ist, lässt Gott den Menschen durch Hesekiel sagen: „Ich schenke euch ein neues Herz und lege einen neuen Geist in euch.“ Es klingt wie am Ostermorgen, wie am Pfingstsonntag. Gott schenkt Erneuerung, gibt die Chance zu einem neuen Anfang. Etwas neu zu beginnen oder etwas gänzlich Neues zu beginnen, passt gut an den Anfang eines Jahres. Die Verheißung Gottes ist in meinen Ohren nicht nur eine persönliche Zusage. Ich höre sie als eine Verheißung, die Bedeutung hat für das Miteinander der Menschen, für das gesellschaftliche Leben. Was geschieht, wenn Gott sagt, er werde die Menschen seines Volkes im Herzen und im Geist neu machen? Ich verstehe besser, was Hesekiel meinen könnte, wenn ich die Worte, die auf die Verheißung folgen, noch hinzunehme: „Ich schenke euch ein neues Herz und lege einen neuen Geist in euch. Ich nehme das Herz von Stein aus eurer Brust und gebe euch ein Herz von Fleisch.“ Ein neues Herz an die Stelle eines Herzens aus Stein … Hartherzigkeit sieht Hesekiel bei den Menschen seiner Zeit. Die Menschen sind hart geworden in ihren Herzen. Das überrascht nicht, wenn man versucht, sich die damalige Situation vor Augen zu führen. Die einen sind aus ihrer Heimat vertrieben. Sie haben verloren, was sie sich aufgebaut haben. Sie leben unter Menschen, die ihnen fremd sind. Bitterkeit, Angst, Verzweiflung – das sind Gefühle, die damit verbunden sein können. Manche werden hart gegen sich und hart gegen andere. Und die, die im Land zurückgeblieben sind: Sie haben ihre Heimat zwar nicht verlassen müssen. Doch das Land ist zerstört. Das Leben dürfte voller Mühe und armselig gewesen sein. Harte Arbeit, Armut, sie können das Herz hart und den Geist müde werden lassen. Für Hesekiel ist die Misere des Volkes nicht erst eine Folge des verlorenen Krieges, der Verschleppung und der Zerstörung des Landes. Hartherzigkeit und Geistlosigkeit gehen der Misere schon voraus. Hesekiel spricht aus, worin die Hartherzigkeit und Geistlosigkeit bestehen, die in die Misere geführt haben und die seine Gegenwart prägen: „Das Schwache stärkt ihr nicht und das Kranke heilt ihr nicht, das Verwundete verbindet ihr nicht, das Verirrte holt ihr nicht zurück und das Verlorene sucht ihr nicht; das Starke aber tretet ihr nieder mit Gewalt.“ (Hesekiel 34,4) Hesekiel blickt mit Abstand auf sein Land, mit dem Abstand des Deportierten. Aus einem solchen Abstand lassen sich die Verhältnisse besser erkennen. Die Stille des Neujahrstages lässt manches auch deutlicher hervortreten. Die Dinge bekommen Kontur. Ich erkenne: Mehr als zweieinhalbtausend Jahre später haben für mich die Worte Hesekiels ihre Aktualität nicht verloren. Angst macht auch heute Herzen hart: Angst vor Fremden, Angst um die eigene Existenz und um die Zukunft. Die Sicherung des eigenen Lebens und der Wunsch nach Wohlstand können unempfindlich machen gegenüber anderen, gegenüber Not und Bedürftigkeit. In der Kirche geht die Angst vor Bedeutungslosigkeit um. Die Zahl der Kirchenmitglieder nimmt ab. Der christliche Glaube bestimmt immer weniger erkennbar das öffentliche Reden und Handeln. Nicht allein Angst lähmt und macht hart. Es gibt eine Unbeweglichkeit des Geistes. Ich habe mich abgefunden mit einer Situation, wie sie ist. Ich frage nicht nach, ob etwas wirklich „alternativlos“ ist. In diese Situation hinein höre ich Gott sprechen: „Ich schenke euch ein neues Herz und lege einen neuen Geist in euch.“ Unsere Welt, unsere Gesellschaft, unsere Nachbarschaft, das Miteinander in unserer Familie, ich und mein Leben brauchen immer wieder ein neues Herz und einen neuen Geist, wie Gott es uns verheißt. Es braucht Mut und Phantasie, um immer neu zu beginnen. Es braucht Mut, die Dinge beim Namen zu nennen. Wie Hesekiel die Hartherzigkeit, das Unrecht, die Missachtung und Unterdrückung seiner Zeit beim Namen nennt. Es braucht Mut, sich den Herausforderungen und Bedrohungen für ein gerechtes und friedliches Miteinander zu stellen. Ich brauche ein lebendiges, mutiges Herz, das die Ängste vor dem Unsicheren im Leben nicht verdrängt, sondern sie zulässt und allmählich überwindet. Es braucht einen wachen Geist, der sich nicht mit dem zufriedengibt, was ist. Und der sich nicht täuschen lässt, Dinge seien so, wie sie sind – und nicht zu ändern. Gott spricht zu uns. Er schenkt uns ein neues Herz und legt einen neuen Geist in uns. Beides kann ich nicht selber schaffen durch eigene Anstrengung. Ich kann es auch nicht fordern. Ich kann aber hineintreten in den Raum, den diese Worte öffnen. Ich kann mich wieder bergen in diesen Worten, wenn mein Herz hart wird oder mein Geist müde. Ich kann auf seine Verheißung vertrauen, wenn die Nachrichten eines Tages, einer Woche mich zweifeln, manchmal verzweifeln lassen. Es gibt ihn, den Neuanfang. Gott schenkt ihn. Bittend kann ich ihn empfangen. Um beides will ich bitten, nicht nur an diesem Neujahrstag: Schenke du, Gott, uns ein neues Herz und lege einen neuen Geist in uns. Amen.