Opfer und Retter

Opfer und Retter

1Petr 2, 18.21-25                                      Misericordias Domini – Großgrabe/Oßling, am 26.04.2020 

„Ihr Sklaven, ordnet euch in aller Furcht den Herren unter, nicht allein den gütigen und freundlichen, sondern auch den wunderlichen. Denn dazu seid ihr berufen, da auch Christus gelitten hat für euch und euch ein Vorbild hinterlassen, dass ihr sollt nachfolgen seinen Fußtapfen; er, der keine Sünde getan hat in dessen Mund sich kein Betrug fand; der nicht widerschmähte, als er geschmäht wurde, nicht drohte, als er litt, er stellte es aber dem anheim, der gerecht richtet; der unsere Sünde selbst hinaufgetragen hat an seinem Leibe auf das Holz, damit wir, der Sünde abgestorben, der Gerechtigkeit leben. Durch seine Wunden seid ihr heil geworden. Denn ihr wart wie die irrenden Schafe; aber ihr seid nun bekehrt zu dem Hirten und Bischof eurer Seelen.“

Liebe Gemeinde! >Klassenkampf< Es war so nervig und belastend, in dieser Klasse Religionsunterricht zu halten. Eine ganze Reihe von Jahren habe ich in der SEK I und SEK II unterrichtet, aber so eine Klasse hatte ich nur einmal. Wie die sich behakten mit üblen Worten, aufeinander losgingen. Jeder war auf sich konzentriert und dabei so aggressiv. Da war Gewalt im Spiel. Manchmal brauchte ich zehn Minuten, um den Unterricht erst möglich zu machen. Aber die Schüler fanden ihr Verhalten normal. Eines Tages sage ich: „Setzt euch so, dass ihr euch gegenseitig ansehen könnt.“ Es dauert, aber sie tun es. „Stellt euch vor“, sage ich, „es gibt in dieser Klasse nur drei Gruppen von Menschen: Täter, Opfer und Retter. >Täter, Opfer oder Retter< Entscheidet euch, zu welcher Gruppe ihr gehört. Schreibt es groß auf ein Blatt und haltet es verdeckt.“ Sie schreien durcheinander, aber tun es. „Jetzt dreht euer Blatt um!“ Alle blicken im Kreis umher. Augenblicklich herrscht Stille. Dann sehen 25 Augenpaare mich an, können das Ergebnis kaum fassen: Opfer, lauter Opfer. >Ich bin Opfer< Ständig haben sie sich gegenseitig bekriegt, verletzt und genervt. Und jetzt denkt jeder: ich bin hier das Opfer. Keiner fühlt sich als Täter. Niemand sieht sich in der Rolle des Retters. Nachdem das Erstaunen weicht, geht das Geschrei wieder los: „Was, du ein Opfer? Du bist doch viel schlimmer als ich.“ „Nein, ich bin unschuldig, ich wehre mich doch bloß. „Du wehrst dich nicht, greifst an, ich leide unter dir.“ Ich hätte der Klasse gerne beigebracht, dass auch Opfer zu Täterwerden können und eine klare Abgrenzung oft nicht möglich ist. Aber das geht wieder im Chaos unter. – >Bin ich Opfer??< Warum sollte es bei diesen Jugendlichen anders sein als beim Rest der deutschen Bevölkerung? Denken viele nicht: Mir wird übel mitgespielt. Ich werde abgezockt. Ich leide unter einer verfehlten Steuerpolitik und Corona. Ich bin Opfer von Lärm, dreckiger Luft, mit Gift belasteten Nahrungsmitteln. Ich leide unter der globalen Weltentwicklung. Ich bin Opfer der Marktwirtschaft, der Finanzkrise, der Bundesbahn und der gegenwärtigen Umstände. – Sich bewusst oder unbewusst als Opfer zu sehen ist schlimm. >Gewinn durch die Opferrolle< Aber manchmal habe ich den Eindruck, es scheint auch lustvoll zu sein. Man kann es genießen, Aufmerksamkeit zu bekommen, bedauert zu werden, sich selbst zu bedauern. So ist auch der Blick für das Leid anderer vernebelt. Als Opfer kann man ein gutes Gewissen haben und auch gut in Deckung gehen, denn die anderen sind dran schuld usw. Solches Nachdenken über das Miteinander in unserer Gesellschaft und in welcher Rolle wir uns dabei sehen ist äußerst hilfreich zum Verstehen unseres Predigtwortes. >Ein befremdlicher Rat an Ofer< Weil – Petrus schreibt diese Worte an Leute, denen die antike Gesellschaft die Opferrolle unwiderruflich übergestülpt hatte. Es ist ein Brief an Sklaven. Wie seltsam klingen seine Anweisungen für die Gedemütigten, Rechtlosen und Leidenden: „Ihr Sklaven, ordnet euch in aller Furcht den Herren unter, nicht allein den gütigen und freundlichen, sondern auch den wunderlichen.“ Mancher schüttelt mit dem Kopf, so befremdlich klingt das. – Manchmal ist das Befremdliche, das Andere aber gerade die helfende Antwort in einer verkorksten, aussichtslosen Lage. Zunächst fragt der aufgeklärte Mensch der Moderne: Warum ruft der Apostel die Unterdrückten nicht zum Widerstand auf? Soll man sich alles gefallen lassen? Wie kann man denn Leid und Unrecht als Gnade bei Gott empfinden? Petrus, der Schreiber, wusste sicher vom Leidensdruck und der Rechtlosigkeit der Sklaven im römischen Imperium. Sie waren der Willkür ihrer Herren ausgesetzt. >Abschied von der Opferolle< Sein Wort an die Sklaven heißt: Blickt weg von euch, eurer Situation, euren Umständen und Herren. Blickt auf Christus, an den ihr glaubt. Wir lesen: „Christus hat für euch gelitten und euch ein Vorbild hinterlassen, dass ihr nachfolgen sollt seinen Fußtapfen; er, der keine Sünde getan hat, und in dessen Mund sich kein Betrug fand; der nicht widerschmähte, als er geschmäht wurde, nicht drohte, als er litt; er stellte es aber dem anheim, der gerecht richtet.“ >Christus war kein Opfer, sondern Retter< Was tut der Apostel Petrus hier? Er richtet die Unterdrückten auf, öffnet ihnen die Augen und sagt: Solange ihr auf eure Rechtlosigkeit in der Gesellschaft schaut, auf euer Unterdrücktsein, seht ihr euch als Opfer, als hilflos, ausgeliefert, der Würde und Zukunft beraubt. Er holt sie aus der Rolle des armen Opfers heraus. Er gibt ihnen ein anderes Bild von sich selbst. Das Bild des klaren, aufrechten Christen, freigesprochen vor Gott. – >Aufrechter Gang in gekrümmten Umständen< Das vermag Glaube an Christus: Ich bekomme einen klaren Blick, welche Würde, Rechte und Gnaden ich habe. Das vermag Glaube an Christus: In der verliehenen Würde zu leben. Das vermag Glaube an Christus: Auf den mir von Gott geschenkten Rechten mein Leben zu bauen. Diese Rechte heißen: Ich bin ein Kind Gottes, Erbe des ewigen Lebens, besiegelt in der Taufe. Das vermag Glaube an Christus, aus den geschenkten Gnaden immer frische Kraft zu schöpfen. Aus den Gnaden, die da sind: Vergebung meiner Schuld, Wort Gottes und Gemeinde. – >Unsere Würde, unser Wert ist bei Gott verankert< Petrus sagt zu den Sklaven: Eure Menschenwürde, euer Recht ist bei Gott verankert, also ewig. Auch heute ist der Glaube an Christus die einzig nachhaltige Widerstandskraft, wenn Menschen oder die Gesellschaft, Alter oder Lebensumstände mir Wert und Würde absprechen wollen. Eine Nummer? Bin ich nicht, sondern geliebtes Gotteskind. Ein Zufall, eine Laune der Natur, eine Ansammlung von Atomen? Bin ich nicht, sondern Gottes Eigentum, teuer erkauft mit dem Blut Christi. Am Preis, den Jesus bezahlt hat, erkenne ich den Wert, den Gott mir beimisst. Zum alten Eisen soll ich gehören, nur weil ich krank, schwach und alt bin? Niemals, denn sonst würde sich Christus nicht die Mühe machen und rufen: „Kommt her, zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken.“ (Mt 11,28) Und mich sollte etwas von Gott trennen, Sünde, Satan, Tod? Nein, wieder weist der Apostel Petrus auf die rettende Tat Jesu. Sie gilt auch mir: „der unsere Sünde selbst hinaufgetragen hat an seinem Leibe auf das Holz, damit wir, der Sünde abgestorben, der Gerechtigkeit leben.“>Der Lebensauftrag: Gerechtigkeit< Das ist der Lebenssinn, der Auftrag jedes Glaubenden: „der Gerechtigkeit leben“, d.h. den Menschen um uns gerecht werden. Christus hat uns nicht nur vor Gott gerecht gemacht, sondern ist uns auch gerecht geworden. Er hat dafür gesorgt, dass ein liebevolles, lebendiges Miteinander wachsen kann. Die Maßstäbe für das Heilwerden unheilvoller Zustände hat er gesetzt. Nun sollen wir das Rad nicht neu erfinden, sondern ihm einfach nachleben. Leben nach Jesu Muster: Ringen, mühen, leiden für heilvolles Leben. Das Herz dieses Lebensmusters liegt immer in dem heilgewordnen Verhältnis zu meinem Schöpfer. Petrus erinnert daran: „Durch seine Wunden seid ihr heil geworden. Denn ihr ward wie die irrenden Schafe; aber ihr seid nun bekehrt zu dem Hirten und Bischof eurer Seelen.“ >Heilmachende Vergebung< Noch heute krame ich ganz gern eine Erinnerung heraus. Sie hat etwas Heilvolles in mir bewegt: Eines Abends setzt sich meine Mutter zu mir ans Bett, dem Zehnjährigen. Ihre Seele beugt sich unter meine und hebt sie aus dem Staub mit den Worten: Entschuldige bitte, lieber Michael, dass ich heute im Zorn gesagt habe: Ich will dich nie mehr sehen. Eine Mutter entschuldigt sich bei ihrem Kind. Heilvolles Leben – das ist nicht nur unsere Bestimmung am Horizont, sondern Gottes Plan für unser Heute. Wir sind keine Opfer, sondern Gerettete aus Sünde und Tod; Menschen Gottes mit einem Weg und seiner Führung; von IHM Geliebte, ausgestattet mit ewiger, unverlierbarer Würde, Hoffnung und Zukunft. Das – ist die Wahrheit unseres Lebens. Amen.

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