Reformationstag

Reformationstag

Gedenktag der Reformation – Oßling, am 31.10.2019

„O Jerusalem, ich habe Wächter über deine Mauern bestellt, die den ganzen Tag und die ganze Nacht nicht mehr schweigen sollen. Die ihr den Herrn erinnern sollt, ohne euch Ruhe zu gönnen, lasst keine Ruhe, bis er Jerusalem wieder aufrichte und es setze zum Lobpreis auf Erden! Gehet ein, gehet ein durch die Tore! Bereitet dem Volk den Weg! Machet Bahn, machet Bahn, räumt die Steine hinweg! Richtet ein Zeichen auf für die Völker! Siehe, der Herr lässt es hören bis an die Enden der Erde: Saget der Tochter Zion: Siehe, dein Heil kommt! Siehe, was er gewann, ist bei ihm, und was er sich erwarb, geht vor ihm her! Man wird dich nennen „Heiliges Volk“, „Erlöste des Herrn“, und dich wird man nennen „Gesuchte“ und „Nicht mehr verlassene Stadt“.“

Jes. 62, 6 – 7; 10 – 12  

Liebe Gemeinde am Reformationstag! Große Verheißung – enttäuschte Hoffnung. Das ist der erste Spannungsbogen, der über unserem Predigtwort schwingt. Es ist ein Wort an die jüdischen Heimkehrer aus der babylonischen Gefangenschaft. Sie hatten die Kraft einer Verheißung erlebt. Als Gefangene hatten sie gehört: eines Tages wird euer Gott euch freisetzen und zurückbringen. Ihr werdet in eurer Heimat wohnen und sie bauen dürfen. – Das hatte ihnen Mut gemacht nicht aufzugeben. Sie würden ihre Heimat wiedersehen, versprach Gott durch den Propheten. Diese Prophetie hatte verhindert, dass aus Gefangenen Sklaven wurden. Sie ließen sich nicht von ihrem Schicksal binden. Deshalb durften sie die Wende erleben. Der Perserkönig Kyros eroberte das babylonische Reich, und – welch seltener Glücksfall –  entließ sie in ihre Heimat. Dass ein Herrscher Sklaven frei lässt, da braucht es nicht viel, um zu sehen, dass da Gott im Spiel ist. Ein riesiger Zug ehemaliger Gefangenen zog die 1.000 Kilometer bis nach Jerusalem. Sie kamen sich dabei vor wie ihre Väter, die aus Ägypten geführt wurden. Erinnerten sich an Mose und Gottes befreiendes wunderhaftes Handeln in Ägypten, durchs Rote Meer, in der Wüste. Jetzt waren sie die Herausgeführten, erlebten das Wahrwerden einer großen Verheißung. Wunder, genau das hatte der Prophet verheißen. Gott ist mit uns. Jetzt, nach 10/15 Jahren, war die Luft raus. Ja, wir durften in unsere Heimat, aber nichts geht hier vorwärts. So klagten sie. Immer noch lebten sie in Trümmern. Tempel, Mauer, Stadt – alles kaputt. Auch Steine predigen, auch Trümmer predigen. Kein Blick mehr nach vorn, nur nach unten und hinten. In diesem Nebel von Resignation spricht dieses Wort. Hören wir, wie es beginnt: Oh – oh Jerusalem. Es bedarf nicht viel, um zu erkennen, wie dieser Ruf unsere Zeit, unsere Verhältnisse berührt. Jerusalem von damals ist unsere Kirche heute. Große Verheißung, enttäuschte Hoffnung. O Jerusalem, o Kirche. – Es kommt aber kein prophetisches Klagelied. Der Prophet spricht etwas aus, was damals wie heute gilt: Betet. Schaut nicht auf die Trümmer, sondern nach oben: „O Jerusalem, ich habe Wächter über deine Mauern bestellt, die den ganzen Tag und die ganze Nacht nicht mehr schweigen sollen. Die ihr den Herrn erinnern sollt, ohne euch Ruhe zu gönnen, laßt ihm keine Ruhe, bis er Jerusalem wieder aufrichte und es setze zum Lobpreis auf Erden.“ – Glauben heißt: das Wesentliche tut Gott, ich bin nur Werkzeug und Gefäß. Nicht Menschen richten die Kirche wieder auf, nicht Menschen setzen die Kirche zum Lobpreis auf Erden, sondern der Herr der Kirche. Trümmer predigen nicht nur Verfall und Resignation. Durch die Trümmer fragt Gott auch: Ist da jemand, dem der Zerbruch, dieses ganze Ausmaß innerer und äußerer Nöte wirklich zu Herzen geht? Bevor wir Steine bewegen, soll sich unser Herz bewegt haben. Die Voraussetzung jeder geistlichen Arbeit ist Anteilnahme, Erbarmen. Vor der äußeren Bewegung steht die innere. Vor dem Aufbau das Gebet. Im Beten wird der Beter zur inneren Anteilnahme geführt. Er nimmt teil an der Not, dem Schmerz und der Absicht Gottes. Er macht sich mit Gott eins. Mit dem, was Gott fühlt und will. Es braucht in unserer Kirche Menschen, die ihre Kirche, die sichtbare und die unsichtbare, lieben. Menschen, die zu Wächtern, zu Betern werden. Ob das Kirchengebäude verfällt oder ob der Glaube verfällt, sichtbare und unsichtbare Trümmer sind ein Ruf zum Gebet. Auch die Trümmer, vor denen wir heute stehen, weil unser Landesbischof durch Intrigen aus dem Amt gedrängt wurde. Ich sehe so viele Trümmer. Jetzt wird mir gesagt: Aus Trümmern wird gebaut werden. Ich liebe meine Kirche, ich meine jetzt die unsichtbare, die Gemeinschaft der Gläubigen, die auf Wort und Sakrament steht. Ich liebe meine Kirche, die lutherische. Sie ist meine Mutter, sie hat mich genährt und im Glauben an Christus großgezogen. In ihrem Schoß habe ich Gemeinschaft mit anderen Christen und Kraft im Glauben an Jesus empfangen. Meine Mutter Kirche ist alt. Soll ich sie deshalb verstoßen? Ja, unsere Kirche ist manchmal so schwach. Wer hinschaut sieht Trümmer und Verfall. Gründe zur Resignation gibt es mehr als genug. Damals hat Israel nicht den Auftrag bekommen: Zieht weg aus dem Trümmerfeld, lasst alles, fangt anderswo neu an. Nein. Gott hatte sie dorthin geführt und gesagt: Bleibt, betet, baut. Wer nicht sich selbst verwirklichen will, sondern Gottes Willen, dem ist es unmissverständlich gesagt: Bleibt, betet, baut. Es hat mir großen inneren Frieden gebracht, als ich mich entschloss: Ich will nicht dorthin gehen, wo es mir gefällt, sondern wo mich Gott hinstellt, will kein „Hans im Glück“ des Glaubens sein, nein, ich bleibe, ich bete, ich baue. Das war meine Bekehrung, meine Abkehr von dem, was ich will und Umkehr zu dem, was Gott mit mir will. Seitdem nimmt meine Gewissheit zu, dass der Herr unsere Kirche ans Ziel bringt; ich bin fröhlich und zuversichtlich darin, dass Gott unser Tun und Lassen so richten wird, dass wir etwas zum Lobpreis seiner Herrlichkeit sein dürfen. Egal, ob wir noch auf Trümmern sitzen, gerade Steine wegräumen, erschöpft von der vielen Arbeit am Rande sitzen oder gerade etwas fertiggebracht haben. Für Gott etwas sein beginnt beim Gebet, ganz gleich, wie es um mich aussieht oder um meine Kirche bestellt ist. Die Namen der Kirche, der Gemeinde, die Namen des Leibes Christi, der wir sind, lauten im Himmel: „Heiliges Volk“, und „Erlöste des Herrn“. Diese Namen beschreiben unseren Stand vor Gott. Mag auch der Zustand oft jämmerlich erscheinen. Wie tröstlich. So spricht dieses Wort heute: „O, meine Mutter Kirche, ich habe Wächter über deine Mauern bestellt, die den ganzen Tag und die ganze Nacht nicht mehr schweigen sollen. Die ihr den Herrn erinnern sollt, ohne euch Ruhe zu gönnen, laßt ihm keine Ruhe, bis er unsere Mutter Kirche wieder aufrichte und sie setze zum Lobpreis auf Erden.“ Bleibt, betet, baut. Denn brauchen wir keinen großen Glauben, sondern den Glauben an einen großen Gott. Amen.

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