Hingabe & Hingeben

Hingabe & Hingeben

Mk 12, 41-44                                      8. Sonntag nach Trinitatis – Großgrabe/Oßling, am 07.08.2022

„Jesus setzte sich dem Gotteskasten gegenüber und sah zu, wie das Volk Geld einlegte in den Gotteskasten. Und viele Reiche legten viel ein. Und es kam eine arme Witwe und legte zwei Scherflein  ein; das macht zusammen einen Pfennig. Und er rief seine Jünger zu sich und sprach zu ihnen: Wahrlich, ich sage euch: Diese arme Witwe hat mehr in den Gotteskasten gelegt als alle, die etwas eingelegt haben. Denn sie haben alle etwas von ihrem Überfluss eingelegt; diese aber hat von ihrer Armut ihre ganze Habe eingelegt, alles, was sie zum Leben hatte.“

Liebe Gemeinde! Das Haus ist umstellt, kommen sie heraus! So tönt die Lautsprecherstimme. Dann der polizeiliche Zugriff. Tränengas, Blendgraneten fliegen durch die splitternden Fensterscheiben, Türen werden eingetreten. Zwei, mit Handschellen auf dem Rücken gefesselt, werden Sekunden später hustend, halb ohnmächtig aus dem Haus geschleift. Szene aus „Tatort“. – Jetzt. Stellt euch vor, unser Predigttext ist wie ein Haus. Und meine Predigt wie ein Polizeieinsatz. Text öffnen, Inhalt schnappen, herausholen – dann wäre dieser Einsatz in Sekunden beendet und würde so klingen: Liebe Mitchristen! Ihr habt gehört: alles, was sie hatte, spendete diese Witwe. Wollt ihr keine Titelchristen, sondern Tatchristen sein, handelt genauso. Gebt alles, was ihr habt. Die Kirchvorsteher werden jetzt mit großen Körben durch die Reihen gehen. Amen. Die Mehrzahl wüsste nicht mehr richtig, was los ist. Ähnlich, wie die beiden, die aus dem Haus geschleift worden. So funktioniert, „auf die Bibel hören – nach der Bibel handeln“, nicht. Bleiben wir doch bei dem Bild: der Predigttext ist wie ein Haus. Dieses Wort von der Witwe, die alles gibt, hat in mir eine warnende Stimme ausgelöst, als würde es sagen: halt, Geduld. Kein Polizeieinsatz. Nimm dir Zeit. Betrachte mich von außen. So ist mir der Vergleich mit dem Haus gekommen. Ich habe es von außen betrachtet. Nicht gefragt: was willst du mir sagen? Sondern: wer bist du? Ich wurde fündig: Unser Text heute ist ganz unscheinbar. Wie ein Häuschen in einer kleinen Gasse am Rande einer Stadt mit vielen Gassen, ohne Hausnummer. Ein Tourist würde sagen: schwer zu finden, leicht zu übersehen, nichts zu bieten. Das einzige, was man bei einer Stadtbesichtigung machen kann: vorbeigehen, links liegen lassen. Wie ich dazu komme? Ich habe gesucht, nachgeschaut. Welchen Stellenwert  haben die Christen der letzten 2.000 Jahre diesem Wort beigemessen? Ergebnis: 1.900 Jahre hat dieser Text keine nachweisbare Rolle gespielt. In der alten Kirche wurde er im Gottesdienst nicht gelesen. Luther predigte über viele Texte. Über diese Witwe verliert er kein Wort auf der Kanzel. Ist das nicht seltsam? 1.900 Jahre erscheint dieses Wort den Christen nur unscheinbar, keiner Mühe wert. Ihr merkt, ich rede noch nicht darüber, was uns dieses Wort sagen kann. Noch betrachten wir es von außen. Erst 1895 wurde unser Abschnitt für so wichtig empfunden, dass er einen Wertaufstieg erlebte. Er erlangte die „Würde“ eines Predigttextes, kam somit alle 6 Jahre auf die Kanzel. Jetzt gehen wir einen Schritt weiter, mit der Frage: Mit welchen anderen Texten wurde er damals im Gottesdienst gelesen? Wir betrachten die Zusammenhänge, entdecken Spuren in diesem Fall: Da ist zuerst seine Unscheinbarkeit, er war lange vergessen. 1895 begann seine Laufbahn auf den Kanzeln Deutschlands. Damals wurde er stets am 13. Sonntag nach Trinitatis, in der festlosen Zeit mit dem Barmherzigen Samariter gelesen. Das Thema beider Texte wurde zusammengefügt: Christen sollten solche Opfer wie die Witwe und Barmherzigkeit wie der Samariter geben. Wie es dann den Gläubigen in den Kirchenbänken gesagt wurde, mutet heute etwas befremdlich an. Ich hab mal nachgelesen: Da wird im I. Weltkrieg aufgerufen, alles, was man hat für die Brüder an der Front zu geben, wie die Witwe. 1944 wurden, statt gegen sinnloses Blutvergießen einzutreten, die Kriegswitwen mit dem Hinweis auf den Verlust des Mannes vertröstet, die Witwe hätte ja auch alles gegeben. Finde ich zynisch. In der BRD nach dem Krieg wurden die Notleidenden in der Ostzone mit der armen Witwe verglichen, der zu helfen ist. Bei all diesen Auslegungen bleibt ein fader Beigeschmack, so ähnlich wie bei meiner Auslegung am Anfang; das Gefühl eben, der Text ist weder ganz erfasst noch berührt er in der Tiefe die Herzen der Hörer. Den Bischöfen unserer Kirche schmeckte das auch nicht. 1977 setzten sie den Text in einen anderen Zusammenhang. Seitdem steht die gebende Witwe nicht mehr neben dem „Barmherzigen Samariter“, sondern in der Leidensgeschichte Jesu, die Passionszeit.  Genau dort gehört er auch hin. Als Jesus die Witwe beobachtet, steht er kurz vor seinem Leiden und Sterben. – Hat mancher gerade das Gefühl, ich rede zu weitschweifig? Wisst ihr, liebe ungeduldige Predigthörer, was wir gerade machen? In kleinen betrachtenden Schritten wandern wir um unser Predigttexthaus. Fragen nicht, was gibt’s du uns? Sondern: Wer bist du? Wir haben gehört, der Text wurde in die Passionszeit verlegt. Ein wichtiger Punkt. Wir verstehen es am Bild und einer Folie. Da ist das Bild „Der barmherzige Samariter“, dann wird die durchsichtige Folie mit der gebenden Witwe drübergelegt. So wird die Folie vom Bild geprägt. Ab 1977 ist der Hintergrund anders.Wir sehen das Bild: den Leidensweg Jesu, wie er verraten wird, Gefangennahme, Verhör, Kreuzigung, sehen Golgatha, wie Jesus sein Leben hingibt für die Sünder, ein Bild voller Hingabe. Jetzt legen wir die Folie unseres Predigttextes darüber und sehen den Zusammenhang: völlige Hingabe. Die Witwe hat alles, was sie zum Leben hatte, als Gabe bestimmt. Wörtlich sagt Jesu über sie: „ … sie hat ihr ganzes Leben gegeben.“ Wird euch deutlich, was uns dieses langsame Herantasten gebracht hat? Wir sehen jetzt – uns Christen wird hier nicht zuerst gesagt: du musst dieses tun, jenes auch, alles geben, sondern: halt an in deinem Rennen, Mühen, Sorgen, Schaffen, Opfern. Ob du es für dich oder Gott tust, halt an. Jetzt ist dieser Text zur letzten Reform 2020 in den 8. Sonntag nach Trinitatis gelegt worden, von der Hingabe ins Tun: „Lebt als Kinder des Lichtes.“ Ist das heutige Thema. Gut. Ich finde ihn in der Passionszeit viel passender, Jesuszentrierter.  Wir schauen ganz ruhig, mit viel Geduld auf diese Witwe. Sie ist ein Rettungszeichen für dich. Nicht die Rettung selber, aber ein Zeichen. Mit ihrer Hingabe weist sie auf Jesu Hingabe. Jesus gab alles, was er hatte, und hielt es nicht wie einen Raub fest. Jesus ruft an dieser Stelle seine Jünger zum Anhalten, will sie auf dieses Zeichen weisen. Sie aber sind mit sich selbst beschäftigt, blind für dieses von allen übersehne Zeichen. Er muss ihnen hinterhergehn, rufen. Schaut! So im Vers 43: „Und er rief seine Jünger zu sich.“ – Es ist gerade etwas geschehen: Wir sind im Haus, mittendrin im Predigttext, sind eingetreten ohne es zu merken. Da sitzt Jesus stundenlang still, den Kollektenkasten im Blick, sieht die Opfer, kleine, große. Dann erscheint die Witwe, erkennbar an ihrer Kleidung. Wie hat er wohl gesehen, dass sich hier ein Zeichen völliger Hingabe vollzieht? Woher weiß er, dass sie alles gibt? Die Antwort ist schlicht: weil er ein Mensch war wie du und ich. Wir erleben es nicht oft, aber wir wissen es tief im Herzen mit Sicherheit, wenn ein Mensch alles tut, was er kann. Alles gibt, was er hat. Einsetzt, was er besitzt. Ob es an der Hektik, der Angst, dem Reichtum oder andern Göttern liegt, dass wir oft Zeichen ganzer Hingabe übersehen? Immer dort, wo wir stille, friedvolle Hingabe entdecken, gewinnt unsere Seele Kraft. Ermutigung und Freude. Jesus sieht voller Freude dieses Zeichen. Er will, dass seine Jünger sich mitfreuen: „Und er rief seine Jünger zu sich und sprach zu ihnen: Wahrlich ich sage euch: Diese arme Witwe hat mehr in den Gotteskasten eingelegt, als alle, die etwas eingelegt haben.“ Die Witwe hier hat einen Bekanntheitsgrad, der den der Pharaonen, Könige und Führer weit übersteigt. Sie hat einen Ehrenplatz durch alle Zeiten und im Himmel. Dort werden wir sie auch treffen, die für so viele ein Zeichen ist. Diese Berühmtheit hat sie einen Pfennig gekostet. Genauer gesagt, alles, was sie hatte. Während die Jünger ihr nachschauen, hören wir Jesu Worte über sie: „Die Gutbetuchten haben alle etwas von ihrem Überfluss eingelegt; diese aber hat von ihrer Armut ihre ganze Habe eingelegt, alles was sie zum Leben hatte.“ Hier wird der Zusammenhang von Habe und Hingabe deutlicher. Hingabe zeigt sich auch im Hingeben. Ich gebe, was ich besitze. Unsinn – ich gebe, was ich besitze. Von der Bibel her Unsinn. Was besitze ich denn? Nur, was ich halten kann, ist mein Besitz. Weder Kindheit, Eltern, Beruf, Gesundheit, Zeit, Geld kann der Mensch halten. Nicht einmal sein nacktes Leben. Es ist also nur Leihgabe. Warum sollten wir nun Gott, dem, der alles hat, geben? Er könnte doch aus Dreck Gold machen. Diese Frage führt uns direkt zur Liebe Gottes. Es stimmt. Man kann nicht Gott und dem Geld dienen, aber Gott mit dem Geld. Nicht der Besitz verstößt gegen Gottes Liebe, sondern die Armut (des Nachbarn in Großgrabe und Guinea, Oßling und Osttimur).  Der Wert, den Gott einer Gabe beimisst, hängt nicht davon ab, was einer gibt, sondern zurückbehält. Gottes Liebe will nicht nur geben, sondern auch nehmen. Was wir so fest in Händen halten, als Leihgabe empfangen haben, soll im tiefsten Sinne der Liebe Raum geben und dienen. Darauf wartet er. Dass unsere Hingabe sich im Hingeben zeigt. Aus Liebe. Amen.

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