16. Sonntag nach Trinitatis/Jubelkonfirmation – Großgrabe, am 11.09.2016
„Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnen-heit. Darum schäme dich nicht des Zeugnisses von unserm Herrn noch meiner, der ich sein Gefangner bin, sondern leide mit mir für das Evangelium in der Kraft Gottes. Er hat uns selig gemacht und berufen mit einem heiligen Ruf, nicht nach unsern Werken, sondern nach seinem Ratschluss und nach der Gnade, die uns gegeben ist in Christus Jesus vor der Zeit der Welt, jetzt aber offenbart ist durch die Erscheinung unseres Heilandes Christus Jesus, der dem Tode die Macht genommen und das Leben und ein unvergängliches Wesen ans Licht gebracht hat durch das Evangelium.“ (2Tim 1, 7-10 )
Liebe Gemeinde! Es ist noch finster. Ich schaue aus dem Fenster. Trübe Wolken ziehen am Himmel entlang. Meine Gedanken sammeln sich langsam zu einem Gebet: Herr, am Sonntag muss ich predigen. Gib mir die rechten Worte. Aber sie fließen nicht. Es kommt kein Strom der Worte, der vom Bibeltext zum Herzen und hindurchfließt. Kein Boot, das ich besteigen kann, um mich treiben zu lassen im friedvollen, tröstenden Fahrwasser. Statt dessen bauen sich in meinem Innern Sperren auf, richtige Barrieren. Trauer heißt die vorderste. Ich denke an die vielen hundert Gemeindeglieder, die vom Gottesdienst und der Predigt nichts erwarten. Mir ist, als ließen sie mich alleine. Und die Stimme der Resignation, versteckt hinter der Trauer, flüstert: Viel Sinn macht es nicht. Ich hab eine Weile zu tun, um diese Sperre zu überwinden. Aber die Worte für die Predigt kommen nicht. Vor mir, auf meinem Weg zu unserem Predigttext, die nächste Barriere. Sie kommt mir höher, gewichtiger vor, schwerer zu bewältigen. Ich erkenne sie als altbekannt. Sie heißt „Erwartungen“. Ich sehe vor mir die Treuen. Sie kommen, sie glauben, sie suchen und ringen. Sie wollen eine Predigt hören. Vor mir sehe ich Junge und Alte, Gesunde und Kranke, Fröhliche und Trauernde, Einsame, Suchende und Zornige …und jeder möchte angesprochen sein, sich verstanden wissen, Mut und Orientierung bekommen, Glauben und Weisung. Kurz soll die Predigt sein, aber den Text erfassen. Zugleich leicht verständlich, aber geistlich tiefgehend. Mit beiden Beinen soll der Prediger auf der Erde stehen, aber vom Himmel reden. Nicht über die Köpfe, sondern in die Herzen … Wie schwer sind doch Menschenherzen zu erreichen, und auch noch alte und junge und auch noch in 15 Minuten und jede Woche … Ich schaue aus dem Fenster und bin mir nicht sicher, ob ich die Barrieren überwinden kann. Die düsteren Wolken schieben und drängen sich dicht an dicht. Ich komme einfach nicht weiter. – Naja, zumindest weiß ich, dass Paulus damals an einen Pfarrer mit einer großen Gemeinde schrieb. Timotheus machte seine Sache gut. Er war sensibel und beherzt, voller Glauben und Engagement, ein Mann des Gebets und der Tat. Aber war´s nun Erschöpfung oder das Gefühl, ein Einzelkämpfer zu sein: Paulus wurde aufgerüttelt durch die Nachricht, dem Timotheus ist das Glaubensfeuer erloschen. Er tut seine Pflicht. Aber da macht sich dort, wo Gelassenheit des Glaubens war, Resignation breit. Wo Liebe glühte, ist nun nur noch Aufgabe und Amtspflicht. Und die Diskussionen, wie alles werden soll, nehmen immer mehr Zeit in Anspruch. Hier muss etwas korrigiert werden … Wie eine Decke, ein festes Tuch, jedenfalls so praktisch ist der Glaube. Mal hat er Kraft, Verzweifelte aufzufangen, dass sie keinen Schaden nehmen. Mal hüllt er die frierenden Seelen ein und wärmt. Und Paulus sieht – das Glaubenstuch des Timotheus dröselt an den Seiten auf. Wenn das so weitergeht, ist sein Glaube nicht mehr belastbar. Paulus sieht – es ist die Furcht, die den Glauben aufdröseln will. Die Furcht vor dies und das, gestern und morgen, was war und was kommt. Paulus kennt aber den Unterschied zwischen Erschöpfung und Furcht. Erschöpfung muss nicht seelsorgerlich behandelt werden, sondern einfach mit Ermutigung: ruh dich aus, schlaf richtig, ernähr dich gesund, iss Vitamine, mach Ausgleichssport. Furcht hat aber nichts mit der Erschöpfung unseres Körpers zu tun, es ist die Erschöpfung unseres Geistes. – Ich denke an Paulus und Timotheus, schaue dabei aus dem Fenster und sehe das Grau in Grau am Himmel, sehe Barrieren, die mich hindern wollen auf dem Weg zur Predigt. Es ist still im Haus, still draußen auf dem Hof, im Morgengrau die Silouette der Oßlinger Kirche. Und nun geschieht etwas schon manchmal Erlebtes, Vertrautes. Es ist mir, als würde in der Stille der Predigttext Gestalt annehmen, Menschengestalt: Gelassen, heiter lächelnd und ernsthaft. Ich sehe ihn mit der Hand winken. Und wie ein sanfter Windhauch wehen seine Worte in mir hin und her: „Ein Haus hat mehrere Türen. Ist der Vordereingang verschlossen und es öffnet niemand, vielleicht ist hinten offen. Vielleicht wirst du dort erwartet?!“ – Der Hintereingang eines Predigttextes. Jedenfalls nicht bei den Barrieren von Traurigkeit oder den Erwartungen anderer. Mir wird der Weg gewiesen und gesagt: am Sonntag sollst du nicht anderen predigen, überlass das Gottes Geist. Dieses Wort will heute dir, dir allein predigen. Du sollst im Gottesdienst nur davon Zeugnis geben. Hören darfst du, sorgen brauchst du nicht. – Ja, ich verstehe. Nicht für andere soll ich das Wort denken, sondern selber hören, ihm mein Herz zuwenden. Wieder schaue ich ins Wolkengrau. Und mitten in meinen Gedanken über die dunklen Wolken höre ich dieses Wort: „Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht…“ Ja, Furcht. Furcht baut Barrieren. Ich habe Furcht. Dieses Eingeständnis ist sicher richtig. Aber öffentlich davon reden? Paulus hat es getan und gesagt: es gibt Zeiten im Leben mit Christus, da will die Furcht den Platz des Glaubens im Herzen einnehmen: Aber keine Bange. Gottes Geist lässt das nicht zu. Zu seiner Zeit bläst er die grauen Wolken weg. Denn Furcht ist so etwas wie schwarze, graue Wolken. Sie verdüstern den Tag, aber haben niemals die Kraft, das Azur des Himmels grau zu malen. Geschweige denn, die Sonne zum Erlöschen zu bringen. Daran erinnert Paulus seinen Freund Timotheus im Alltagsgrau seines Dienstes. Umarmt ihn mit diesen Worten in seinen düsteren Stunden: „Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.“ – Manchmal, ihr Lieben, ist mir Paulus sehr nahe, als Seelsorger, Prediger und Mensch. Hier aber erscheint er mir übergroß. Wie ein Glaubensriese, zu dem ich bewundernd aufschaue. Er schreibt doch seine ermutigenden Trostworte aus einem nassen, verwanzten Dreckloch, römisches Gefängnis von Kaisers Gnaden. Er weiß, dass seine Tage gezählt sind. Die Tinte seines Todesurteils ist gerade getrocknet und es wird gesiegelt. Und er schreibt, als säße er im Schoß der Liebe. Ich könnte das so nicht. So ein Glaubensheld bin ich nicht. – Da passiert es noch einmal. Wie ein Mensch spricht der Predigttext zu mir: „Unsinn. So ein Unsinn. Paulus war ein schwacher Mensch, ein zerbrechliches Gefäß wie du. Seine Kraft stammte nicht aus seinen persönlichen Charakterstärken. Höre einfach genau hin, auf das Geheimnis seiner Kraft. Er war mit Gottes Geist gefüllt wie du. Hörst du? Auch du hast denselben Geist, glaubst du das?“ – Ja, ich glaube: Gott hat mir nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit. „Nicht nur dem Paulus, auch dem Timotheus, auch dir. Und nun höre den Auftrag: Jesus Christus, das Wort selber, das Evangelium leidet. Die frohe Botschaft wird verlacht, geschmäht, ignoriert und mit Blut und Verachtung besudelt. Dort ist dein Platz. Stelle dich zum Evangelium und leide mit. Schäme dich nicht für den Namen Jesu. Schäme dich nicht für die Schande und das Kreuz, das er trug. Schäme dich nicht für das Blut, das er für die Sünder und ihre Rettung vergoss. Nimm die große Ehre an, zum Mitleiden am Evangelium gerufen zu sein. Lies, was Gottes Geist in dir tun will. Wenn du willst, lies, wozu Kraft, Liebe und Besonnenheit dienen“: „Darum schäme dich nicht des Zeugnisses von unserem Herrn, noch meiner, der ich sein Gefangener bin, sondern leide mit mir für das Evangelium in der Kraft Gottes.“ Mitleiden, Aufruf zum Leiden, das klingt anders als die Stimmen, die wir sonst in uns, um uns hören. Nicht gerade einladend. Um des Glaubens willen leiden. Deutlich wird hier, dass Glaube an Jesus Christus nicht nur wie ein Samenkorn im Acker der Welt, sondern manchmal ein Sandkorn im Getriebe der Welt ist. Es knirscht im Getriebe der Welt, wenn sich Christen dazwischen werfen, zwischen dieses: mit dem Tod ist alles aus. – Wenn ein Sünder, also Menschen wie wir, unsere Nachbarn und die Bundeskanzlerin die Botschaft von ihrer Rettung durch Jesus hören – wenn sie hören, dass sie ohne Jesus in die Hölle kommen, mit ihm aber in Gottes Herrlichkeit. Wenn sie hören, dass sie sich bekehren müssen, dann knirscht der Widerspruch. In vielen Ländern dieser Erde müssen Christen dafür leiden oder werden durch Todesstrafe zum Schweigen gebracht. Ja, dafür schämen wir uns nicht: Jesus ist das Sandkorn im Getriebe der Welt. Dieser Welt, die dem Tod soviel Furcht entgegenbringt, dass sie ihn verdrängt, und wenn er zuschlägt, seine „Allmacht“ schweigend anerkennt. Dem widersprechen wir! Wir reden über den Tod und seine Entmachtung mit dem Zeugnis dieses Wortes: „Christus Jesus hat dem Tode die Macht genommen und das Leben und ein unvergängliches Wesen ans Licht gebracht durch das Evangelium.“ Hören wir: damit viele von ihrer Rettung aus Tod und Sünde erfahren, damit die Wahrheit über ihre Zukunft ans Licht kommt, deshalb muss das Evangelium gepredigt werden. Meinen wir, dieses große Werk wäre ohne Einsatz, Kampf und Leiden möglich? „Ecclesia militans“, die kämpfende Gemeinde – so hat sich die junge Kirche genannt. Einmal werden wir wohl sterben, aber dem Tod begegnen wir nicht. Wir gehen wie durch ein Tor ins Licht zu unserem Herrn. Jesus Christus hat uns diesen Sieg am Kreuz erstritten. Das hat Paulus in seinem Gefängnisloch gesehen und Timotheus daran erinnert, hinter die dunkle Wolkenwand zu blicken. – Mein Blick aus dem Fenster sieht die aufgerissne Wolkendecke mit kleinen blauen Inseln. Es wird wohl ein schöner Tag … Glaube vermag hindurchzublicken, auf Gottes Zukunft. Sie ist schon im Kommen. Deshalb: „Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.“ Amen.