Die Sprache wiederfinden

Die Sprache wiederfinden

Hallo,

Vor ein paar Wochen fragt mich meine Tochter: „Papa, kommst du mit in den Kletterpark?“ Ich: „Tut mir leid, Malea, ich hab Rückenschmerzen und mein Kopf tut weh. Ich kann heute nicht klettern gehen.“ Sie meint nur: „Dann klettere doch mit Händen und Füßen.“ Da war ich kurz sprachlos. Und musste lachen.

Wann warst du das letzte Mal sprachlos? Wo haben dir das letzte Mal die Worte gefehlt? Wo wolltest du eigentlich was sagen, aber du wusstest nicht was? Das ist meistens ja nicht so lustig, wie in dem Fall von meiner Tochter und mir.

Ich möchte heute mit uns zwei Geschichten anschauen, in denen es genau darum geht: Um Sprachlosigkeit und wie wir die Sprache wiederfinden. Die eine Geschichte haben wir bereits als Evangelium gehört. Das ist ein Ausschnitt aus dem Bericht des Pfingstereignisses. Die andere Geschichte ist viel älter. Sie steht auf den ersten Seiten der Bibel und ereignet sich kurz nach der Geschichte von Noah und der Flut. Ich lese aus 1.Mose11,1-9:

1 Es hatte aber alle Welt einerlei Zunge und Sprache. 2 Als sie nun von Osten aufbrachen, fanden sie eine Ebene im Lande Schinar und wohnten daselbst. 3 Und sie sprachen untereinander: Wohlauf, lasst uns Ziegel streichen und brennen! – und nahmen Ziegel als Stein und Erdharz als Mörtel 4 und sprachen: Wohlauf, lasst uns eine Stadt und einen Turm bauen, dessen Spitze bis an den Himmel reiche, dass wir uns einen Namen machen; denn wir werden sonst zerstreut über die ganze Erde. 5 Da fuhr der HERR hernieder, dass er sähe die Stadt und den Turm, die die Menschenkinder bauten. 6 Und der HERR sprach: Siehe, es ist einerlei Volk und einerlei Sprache unter ihnen allen und dies ist der Anfang ihres Tuns; nun wird ihnen nichts mehr verwehrt werden können von allem, was sie sich vorgenommen haben zu tun. 7 Wohlauf, lasst uns herniederfahren und dort ihre Sprache verwirren, dass keiner des andern Sprache verstehe! 8 So zerstreute sie der HERR von dort über die ganze Erde, dass sie aufhören mussten, die Stadt zu bauen. 9 Daher heißt ihr Name Babel, weil der HERR daselbst verwirrt hat aller Welt Sprache und sie von dort zerstreut hat über die ganze Erde.
(Gen.11,1-9; LUT)

Eine merkwürdige Geschichte, die sich da so prominent in den Anfang der biblischen Erzählungen einwebt. Die Menschen haben sich nach der Sintflut wieder vermehrt. So, wie Gott es ihnen aufgetragen hatte. Und eigentlich scheint das Bild zu Beginn ganz harmonisch. Die Menschen verstehen sich. Nicht nur weil sie alle die gleiche Sprache sprechen, sondern auch, weil sie das gleiche Ziel haben:

  1. Sie wollen einen Turm bauen.
  2. Sie wollen sich einen Namen machen.
  3. Sie wollen zusammenbleiben.

Im Grunde doch ein schönes Bild.

Aber dann kommt Gott und bringt alles durcheinander. Warum? Hat Gott keinen Gefallen daran, dass Menschen sich gut verstehen? Hat er nicht selbst gesagt: „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein ist“? Ist das nicht eigentlich das Größte, wenn Menschen miteinander unterwegs sind und ein gemeinsames Ziel verfolgen? Diese Geschichte provoziert uns mit dieser Frage: Was denkt Gott eigentlich darüber, wenn Menschen zusammenkommen? Was denkt er, wenn wir zusammenkommen? Was denkt er, wenn wir zusammenkommen, um unser 20jähriges Jubiläum zu feiern?

Je länger, je mehr glaube ich, dass gerade die ersten Seiten der Bibel uns schon unglaublich viel über Gottes feinsinnigen Charakter offenbaren. Das Problem ist nur, dass das in zum Teil tragischen Geschichten passiert. Und ich bin ja schon mal froh, dass die Geschichte vom Turmbau zu Babel nicht ganz so tragisch ausgeht, wie vorher die Geschichte von der Sintflut. Wobei das Ergebnis, dass jetzt alle Schüler irgendwelche Fremdsprachen lernen müssen, schon auch irgendwie tragisch ist.

Als Gott den Menschen ein paar Kapitel vorher erschafft, betont die Erzählung, dass der Mensch als Gottes Gegenüber geschaffen ist. Der Mensch, jeder Mensch, du und ich, wir sind alle für eine Beziehung zu und mit Gott geschaffen. Und als Gott den einzelnen Menschen da so vor sich stehen sieht, guckt er sich sein Werk an und stellt fest: „Ne, das ist nicht gut … das ist nicht gut, nur einen zu erschaffen. Die Welt braucht viel mehr davon. Und vor allem braucht die Welt die Gemeinschaft der Menschen untereinander.“ Und so ist der Mensch konzipiert: Als Gottes Gegenüber, eingebunden in Beziehungen untereinander.

Es ist bemerkenswert, mit welchen Worten Gott in unserer Geschichte das Potential menschlicher Gemeinschaft beschreibt. Er weiß, wo Menschen zusammen an einem Strang ziehen, da sind sie nicht aufzuhalten. Ihnen ist alles menschendenkbare möglich. Bis heute ist das so. Großartige Ideen, die Menschen gemeinsam verfolgen, sind nicht aufzuhalten. Gerade in diesen Tagen staunen wir wieder einmal mehr, wozu der Mensch in der Lage ist. Er bringt Maschinen bei, Dinge zu lernen, die bislang nur Menschen lernen konnten. Und Ergebnisse sind innerhalb von Sekunden verfügbar. Das kann einem schon ordentlich die Sprache verschlagen.

Menschen war, ist und wird weiterhin alles Menschendenkbare möglich sein. Aber eben auch nur alles Menschendenkbare. Und genau das ist der Knackpunkt in der Geschichte vom Turmbau zu Babel. Die Menschen haben aus dem Blick verloren, dass sie als Gemeinschaft auf Gott bezogen sind. Leider ist auch das bis heute so.

Die Gefahr, bzw. die Konsequenz daraus ist aber, dass der Mensch hinter seinem Potenzial zurückbleibt. Und noch viel schlimmer: Er kappt die Verbindung zu der Quelle seines eigenen Lebens. Und er verliert Gottes Gedanken aus dem Blick. Die Erde war nach der Sintflut fast völlig unbewohnt. Und Gott hatte gesagt: „Bevölkert die ganze Erde! Die Welt braucht euch!“ Aber sie machen genau das Gegenteil und wollen sich eben nicht ausbreiten, sondern einen Turm bauen. Wo Menschen Gott aus dem Blick verlieren, bleibt es nicht aus, dass sie aus der besten Absicht heraus, genau das Gegenteil von dem tun, was Gott will.

Deshalb greift Gott ein. Er lässt das Projekt der Menschen scheitern. Er schmeißt nicht den Turm um. Er schickt keine neue Flut. Er lässt auch sonst keine Plage über die Menschen kommen. Er sorgt lediglich dafür, dass es ihnen sprichwörtlich die Sprache verschlägt. Sie sind nicht mehr sprachfähig, um das Projekt am Laufen zu halten. Die Kommunikation ist gestört.

Und ich frage mich: Kann es sein, dass Gott heute noch genauso vorgeht? Wenn sich in unserer Gesellschaft Gräben auftun, dass man nicht mehr miteinander sprechen kann. Wenn man selbst im Freundeskreis den Eindruck hat, aneinander vorbeizureden. Wenn wir auch in unserer Gemeinde merken, dass wir es an so vielen Stellen nicht mehr schaffen, gut zu kommunizieren. Wenn wir nicht mehr in Worte fassen können, worum es eigentlich geht. Oder wir den Eindruck haben, dass wir permanent missverstanden werden.

Ich glaube: Ja. Das kann durchaus sein. Vielleicht ist genau diese Sprachbarriere manchmal ein Zeichen dafür, dass wir unseren eigenen Turm zu Babel bauen und Gott aus dem Blick verloren haben.

Diese Geschichte ist ja in erster Linie für das Volk Israel aufgeschrieben worden. Und ich glaube, die Geschichte Israels setzt das Dilemma von Babel sehr gut fort. Gott hatte einen Plan mit seinem Volk. Durch dieses Volk, die Nachkommen Abrahams, sollten alle umliegenden Völker erkennen, wie Gott ist. Daran, wie die Israeliten miteinander und mit ihrem Gott umgehen, wollte Gott sich allen anderen offenbaren. Aber wenn man sich das Alte Testament so anschaut, überschattet die Verwirrung Babels die gesamte Geschichte Israels. Nicht allein im sprachlichen Sinne. Sondern vor allem im geistlichen Sinne. Sie verstehen Gott nicht. Sie verstehen sich untereinander nicht. Und die Völker um sie herum verstehen das, wofür Gott dieses Volk eigentlich gebrauchen will, schon überhaupt nicht.

In Ausnahmefällen gelingt es trotzdem. Zum Beispiel lässt sich die Moabiterin Ruth auf den Gott ihrer israelischen Schwiegermutter Noómi ein. Oder der assyrische Feldherr Naáman wird durch Elisas Weisung geheilt und findet zum Glauben an den Gott Israels. Aber es bleiben Ausnahmen. Dass das Volk Israel anfängt, eine Sprache zu sprechen, die die umliegenden Völker verstehen, um ihnen Gott nahe zu bringen, passiert nicht.

Doch dann kommt Pfingsten. Jesus hat vorgelebt, worum es Gott mit den Menschen geht. Er hat mit seinen Jüngern eine neue Gemeinschaft geformt, die sich um ihn, Gott selber, bildet. Und als er sie verlässt, sagt er, sie sollen warten, bis sie die Kraft des Heiligen Geistes empfangen würden. Und dann passiert genau das. Vor zwei Wochen haben wir die Geschichte gehört. Mit einem Brausen vom Himmel und – Achtung – Zungen, wie von Feuer zerteilt. Ich lese uns noch mal die Passage vor, was dann passiert:

6 Als nun dieses Brausen geschah, kam die Menge zusammen und wurde verstört, denn ein jeder hörte sie in seiner eigenen Sprache reden. 7 Sie entsetzten sich aber, verwunderten sich und sprachen: Siehe, sind nicht diese alle, die da reden, Galiläer? 8 Wie hören wir sie denn ein jeder in seiner Muttersprache? 9 Parther und Meder und Elamiter und die da wohnen in Mesopotamien, Judäa und Kappadozien, Pontus und der Provinz Asia, 10 Phrygien und Pamphylien, Ägypten und der Gegend von Kyrene in Libyen und Römer, die bei uns wohnen, 11 Juden und Proselyten, Kreter und Araber: Wir hören sie in unsern Sprachen die großen Taten Gottes verkünden. 12 Sie entsetzten sich aber alle und waren ratlos und sprachen einer zu dem andern: Was will das werden?
(Apg.2,6-12; LUT)

Die Jünger von Jesus erleben, wie Gott einer menschlichen Gemeinschaft ihre Sprachfähigkeit zurückgibt. Was seit dem Turmbau zu Babel verschüttet gegangen ist, bringt Gott durch seinen Geist wieder hervor: Menschen sprechen wieder eine Sprache, die alle Welt versteht. Petrus ergreift an diesem Tag das Wort und was er sagt, trifft die Leute ins Herz. Nicht nur linguistisch, sondern auch geistlich spricht er eine Sprache, die die Menschen verstehen können. Und in diesem Moment ist die Gemeinde geboren. Pfingsten ist Gottes Auflösung der Verwirrung von Babel.

Diese Gemeinschaft, die von Gottes Geist befähigt ist, hat ein neues Ziel:

  1. Sie wollen Gottes Reich bauen.
  2. Sie wollen Gottes Namen groß machen.
  3. Sie wollen die ganze Welt damit erreichen.

Das Zentrum ihrer Gemeinschaft ist der dreieinige Gott. Und der macht sie sprachfähig.

Wie sieht es bei uns aus und unserer Sprachfähigkeit? Gott will uns nicht sprachlos zurücklassen. Er hat damals an Pfingsten in seiner Gemeinde angefangen. Sein Geist will auch uns wieder sprachfähig machen. Untereinander. Aber vor allem auch über unsere Gemeindegrenzen hinaus.

Vielleicht traust du dir das gar nicht zu. Du bist ja kein Theologe oder kein Evangelist oder was auch immer du glaubst, sein zu müssen, um die Worte zu finden, mit denen man seinen Glauben mit anderen teilt. Und ich kenne diese Sprachlosigkeit.

Aber ich glaube, Gott sehnt sich danach, uns ebenso wunderbar sprachfähig zu machen, wie die Jünger an Pfingsten. Er möchte, dass wir die Sprache wiederfinden, die die Menschen um uns herum verstehen. Hier in unserer Gesellschaft, in den Milieus, in denen wir uns bewegen. Inmitten aller Herausforderungen unserer Zeit. Aber ich glaube, an vielen Stellen sind wir da noch nicht. Wir sind oft selbst noch sprachlos. Oder manchmal doktern wir halt noch etwas hilflos an unserem Turm rum. Und kriegen uns dabei in die Haare, weil wir uns nicht verstehen.

Dann gilt es, Gott um seine Hilfe zu bitten, uns sein Ziel mit uns wieder neu aufs Herz zu legen. Damit wir das tun, wozu er uns geschaffen, errettet und befähigt hat. Vielleicht brauchen wir noch ein paar Tage, wie die Jünger zwischen Himmelfahrt und Pfingsten. Der Heilige Geist mit all seiner Kraft will erbeten werden. Und in diesem Prozess müssen wahrscheinlich immer wieder manche Turmbau-Projekte aufgegeben werden.

Gottes Reich besteht zum Glück nicht aus Türmen. Sondern aus uns Menschen. Menschen, die in Beziehung zueinander und zu Gott stehen. Menschen, bei denen es einem die Sprache verschlägt, wie sprachfähig sie sind.

Amen.